Die 24

502 33 0
                                    


Ich muss tatsächlich eingeschlafen sein, denn einige Zeit später  werde ich unsanft wachgerüttelt. Ich öffne erschrocken die Augen und  blicke in das genervte Gesicht von Hestia. Sobald sie merkt, dass ich  wach bin, stolziert sie auch schon aus meinem Abteil. Ich blicke ihr  verwundert hinterher. Warum bitte hat sie mich geweckt, wenn sie sofort  wieder verschwindet? Und warum war sie so gereizt? Wahrscheinlich hat  sie ein paar Mal versucht, mich mit Rufen zu wecken und als ich nicht  reagiert habe, hat sie mich schütteln müssen. Hinzu kommt vermutlich  noch, dass ich auf dem Boden geschlafen habe. Das ziemt sich im Kapitol  sicherlich nicht. Aber dieser Boden ist bequemer als Leas und mein Bett  zuhause in Distrikt 8.

In diesem Moment stürmt erneut jemand  durch meine Abteiltür und ich zucke zusammen, als die Betreuerin wieder  erscheint. Sie scheint nun nicht mehr nur genervt, sondern fast schon  zornig sein. Ihr Gesicht ist von roten Flecken übersäht. Sie schimpft  mit mir und zieht mich dann unsanft auf die Füße, bevor sie abermals aus  dem Abteil rauscht. Ich begreife. Offenbar hat sie mich nicht nur  geweckt, um mich zu ärgern, sondern damit ich ins Gemeinschaftsabteil  komme. Gibt es schon Abendessen? Oder...wahrscheinlich zeigen sie jetzt  die Zusammenfassung der Ernten, dass muss es sein.

Ich streiche  kurz mein Erntekleid glatt – ich wage es nicht, mich noch umziehen,  sonst müsste ich Hestia noch länger warte lassen – und verlasse mein  Abteil.

Als ich im Gemeinschaftsabteil angekommen bin, sitzen die  anderen bereits schon in der Sitzecke vor dem Fernseher, der gerade den  Beginn der Ernte in Distrikt 1 zeigt. Mit gesenktem Kopf tapse ich zu  ihnen und setze mich neben meinen Mittribut auf das Sofa. Ich keuche  kurz auf, als es nachgibt, und habe Angst, ich könne in dem Stoff  verschwinden. Ich werfe den anderen einen kurzen Blick zu. Hestia  taxiert mich mit bösen Blicken, Yarnn schaut beinahe enttäuscht und mein  Mittribut starrt mich mit einer Mischung aus Verwirren und Mitleid an,  vermutlich weil Hestia sauer auf mich ist.

Wir richten alle  unsere Blicke auf den riesigen Bildschirm, als sie im Großformat das  Mädchen zeigen, dass sich in Distrikt 1 freiwillig gemeldet hat. Sie ist  riesig. Bestimmt an die zwei Meter. Und kräftig. Natürlich, die  Jugendlichen in 1, 2 und 4 trainieren ja auch an Akademien, die sie auf  die Hungerspiele vorbereiten sollen. Das Mädchen wirft ihre blonden,  langen Haare nach hinten und stolziert mit einem gewinnenden Lächeln  nach vorne zur Bühne. Sie macht mir Angst. Der Junge aus ihrem Distrikt  ist nicht besser. Er scheint ein einziges Muskelpaket zu sein und ist  genauso groß wie seine Partnerin.

Weiter geht es mit Distrikt 2.  Auch hier gibt es zwei Freiwillige. Das Mädchen ist 17, groß und hat  schwarze Haare. Der Junge ist 18 Jahre alt und kann es offenbar gar  nicht erwarten, endlich in die Arena zu kommen. Er scheint sogar noch  gefährlicher als die beiden aus 1 zu sein.

Nach Distrikt 2 kommt  Distrikt 3. Der Name des Mädchens wird genannt und sofort schwenkt die  Kamera zu einem zierlichen Mädchen in der Reihe der Fünfzehnjährigen.  Sie wird kalkweiß im Gesicht und rührt sich einen Moment lang nicht von  der Stelle. Dann setzt sie eine entschlossene Miene auf, streicht sich  eine hellbraune Strähne zurück und geht mit schnellen, aber festen  Schritten auf die Bühne zu. Ihr Distriktpartner ist ein Jahr älter als  sie und als er zur Bühne geht, lächelt er.

Ich kann ihn nicht  verstehen. Die Karrieros freuen sich immer auf die Hungerspiele, das ist  nichts neues, aber er kommt aus Distrikt 3.

Als nächstes zeigen  sie die Ernte in Distrikt 4. Das Mädchen ist eine 18-Jährige  Freiwillige. Ihre rotbraunen Haare stehen zu allen Seiten ab und ihre  Augen funkeln angriffslustig. Der Junge ist ebenfalls 18, allerdings ein  Geloster, was für einen Karrierodistrikt recht ungewöhnlich ist, ihn  aber nicht weniger gefährlich macht. Er ist wenn nicht so groß wie die  beiden aus 1, dennoch mindestens einen Kopf größer als ich und dreimal  so breit – nicht, weil er übergewichtig wäre, sondern wegen der Muskeln.  Mir erscheint die diesjährige Karrierogruppe viel stärker als sonst,  aber vielleicht liegt das auch daran, dass sie dieses Mal meine Gegner  sind.

In Distrikt 5 sieht es schon wieder anders aus. Das Mädchen  fängt an zu weinen, nachdem ihr Name gesagt wurde. Ich schätze sie auf  etwa 14 Jahre, genauso alt wie mein Mittribut. Sie ist zwar nicht so  dürr wie ich selbst oder die aus 3, trotzdem wirkt sie nicht besonders  gefährlich auf mich. Ihr Distriktpartner ist 17 Jahre und möchte  offenbar genauso stark wirken, wie der Junge aus 3, aber mich täuscht er  nicht. Seit auf meine Ohren kein Verlass mehr ist, beobachte ich alles  viel genauer mit meinen Augen und so merke ich, wie sich, kurz bevor er  eine lächelnde Maske aufsetzt, die Augen des Jungen aus 5 vor Entsetzen  weiten.

In Distrikt 6 trifft es die Tochter des Bürgermeisters.  Ich erkenne noch bevor die Kamera zu der 15-Jährigen schwenkt, wie der  Bürgermeister vor Schreck erstarrt. Seine Tochter scheint recht gefasst  zu sein, und da sie die Tochter des Bürgermeisters ist, ist sie auch  relativ gut genährt. Der Junge aus ihrem Distrikt hingegen kommt wie ich  aus dem Saum. Er ist 12. Und winzig. Er sieht so aus, als würde er  sofort ohnmächtig werden. Irgendwie schafft er es trotzdem, die Bühne zu  erreichen, ohne zusammenzubrechen. Er tut mir leid. Er hat sicherlich  eine noch geringere Chance als ich, zu gewinnen und er weiß das auch.

In  Distrikt 7 wird eine 13-Jährige ausgelost. Niemand meldet sich  freiwillig, wie auch bei dem Jungen aus 6. Das Mädchen erstarrt und  wischt sich, bevor sie zur Bühne läuft, mit der Hand über das Gesicht –  in ihren Augen glitzern Tränen. Ihr Distriktpartner ist ein 18-Jähriger  Hüne, der seinem Körperbau nach zu schließen nie zu wenig zu essen  hatte.

Als Nächstes kommt Distrikt 8. Ich sehe, wie Hestia das  Los zieht und meinen Namen vorliest. Dann schwenkt die Kamera zu mir.  Ich sehe, wie Lacey erbleicht und wie ich mich ihr zuwende. Sie zeigt  mit der Hand erst auf mich und dann zur Bühne. Als ich verstehe, steigen  mir Tränen in die Augen, die ich wie das Mädchen aus 7 wegwische, bevor  ich zur Bühne laufe. Man sieht, dass meine Beine zittern. Kein guter  Start, um Sponsoren zu gewinnen. Als mein Mittribut ausgelost wird,  sieht man ihn erbleichen und als er zur Bühne läuft, weint er. Er tut  mir immer noch leid.

Die beiden aus 9 sind nicht sonderlich  auffällig. Das Mädchen ist 17 und zittert leicht, als sie zur Bühne  hinaufgeht, der Junge ist ein Jahr jünger als sie und setzt ein  künstliches Lächeln auf.

In Distrikt 10 wird ein zwölfjähriges  Mädchen gelost, aber es meldet sich eine 18-Jährige. Die beiden haben  dieselben rotbräunlichen Haare, offenbar Schwestern. Und als das Mädchen  oben auf der Bühne steht, kann ich die Angst in ihren Augen sehen.  Offenbar bereut sie es schon jetzt, sich freiwillig gemeldet zu haben.  Ihr Distriktpartner ist ein 15-Jähriger, der selbstbewusst nach vorne  zur Bühne geht. Er sieht ziemlich gut aus und wird bestimmt einige  Sponsoren allein durch sein Aussehen gewinnen können.

In  Distrikt 11 wird ein 14-Jähriges Zwillingspaar gelost. Sie sind wie die  meisten aus Distrikt 11 dunkelhäutig und unterernährt.

Den Abschluss macht Distrikt 12 mit zwei Sechzehnjährigen.

Der  Bildschirm wird schwarz. Hestia sieht meinen Mittribut und mich  durchdringend an und fragt irgendetwas. Ich sehe meinen Mittribut kurz  angebunden antworten, dann richten sich alle Blicke auf mich. Ich  schlucke. Nun werde ich es ihnen sagen müssen. Wie werden sie reagieren?  Vor allem Yarnn. Ich fixiere angestrengt eine silberne Karaffe, die  rechts neben dem Fernseher auf einem der Serviertische steht und hole  tief Luft.
Ich öffne den Mund und sage: „Ich kann nicht hören!"

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt