Angst

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Ich  bleibe noch einige Minuten still sitzen und denke über unser Gespräch  nach. War es richtig, Ava zu erlauben, zum Füllhorn zu gehen, während  ich fliehe? Sie ist erst dreizehn, ich sechszehn. Es wäre meine Aufgabe,  sie zu beschützen. Meine Aufgabe, für sie zu sorgen. Aber ich kann  nicht. Warum? Weil diese blöde Explosion an meinem allersten Arbeitstag  in der Fabrik mir mein Hörvermögen genommen hat. Ich hätte mich nicht  mit Ava verbünden sollen – ich bin lediglich eine Gefahr für das Mädchen  aus Distrikt 7. Wenn Ava wegen mir stirbt, verzeihe ich mir das nie.  Aber vielleicht müsste ich das nicht, wenn wir beide sterben. Vielleicht  schon morgen.

Ich zwinge mich dazu, vom Bett aufzustehen und ins  Bad zu gehen, um mich ebenfalls frisch zu machen vor dem Abendessen.  Ich streife das leuchtend blaue Kleid ab und lasse es zu Boden gleiten.  So eine Verschwendung. Ein wunderschönes Kleid. Es wird nur ein einziges  Mal getragen. Von einer Todgeweihten. Pure Verschwendung.

Die  Haarbänder erweisen sich komplizierter als das Kleid. Mir will es nicht  gelingen, sie aus meinen Haaren zu lösen. Meine Hände fangen an zu  zittern und ich spüre, wie mir erneut die Tränen in die Augen steigen.  Hastig wische ich sie weg. Ich möchte nicht weinen. Es würde nichts  ändern. Ich muss morgen in die Arena, egal ob ich weine, schreie oder  einfach nur still bin. Trotzdem kann ich es nicht verhindern, dass mir  die Tränen unaufhörlich in die Augen steigen. Ich habe Angst, furchtbare  Angst. Ich bin doch erst sechzehn. Ich will noch nicht sterben. Jeder  von uns hätte noch ein langes Leben vor sich, aber das Kapitol zerstört  alles. Es zerstört nicht nur das Leben von 24 Tributen Jahr für Jahr. Es  zerstört auch das Leben aller, die sie lieben. Ich will noch nicht  sterben. Aber 23 andere wollen es auch nicht. 23 werden sterben. Einer  überlebt. Ich will noch nicht sterben.

Ich gebe meine  hoffnungslosen Versuche auf, die Haarbänder aus meinen widerspenstigen  Haaren zu lösen und begebe mich stattdessen sofort unter die Dusche.  Blind drücke ich irgendwelche beliebigen Knöpfe und erst als ich schon  längst unter der Dusche stehe, merke ich, dass das Wasser eiskalt ist.  Ich stelle das Wasser aus und klettere hinaus. Trockne mich ab. In das  Handtuch gewickelt verlasse ich das Bad und gehe zu meinem  Kleiderschrank. Ich ziehe das rüschenbesetzte Nachthemd heraus und gehe  zurück in das Bad.

Dort betrachte ich mich in dem Rüschenkleid  zweifelnd im Spiegel. Wenn meine Eltern mich so sehen könnten. Ich sehe  furchtbar aus. Es ist mir egal. Ich versuche erneut, die Haarbänder aus  meinen Haaren zu befreien und schließlich gelingt es mir. Bevor ich das  Bad verlasse, käme ich die nassen Haare.

Anschließend begebe ich  mich in das Esszimmer. Es muss beinahe Abendessenszeit sein und heute  werde ich nicht darauf warten, bis eine aufgebrachte Hestia mich holen  kommt, weil ich schon wieder zu spät bin.

Tatsächlich bin ich  beinahe die Erste. Lediglich Sash sitzt bereits am Tisch, der wie immer  reichlich gedeckt ist. Als der Vierzehnjährige mich kommen hört, dreht  er sich auf seinem Stuhl um. Bei meinem Anblick bekommt er große Augen  und starrt mich entgeistert an. Ich zwinge ein belustigtes Grinsen auf  meine Lippen. Es wirkt eher gequält.

„Nein, mir gefällt nicht,  was ich gerade trage", erkläre ich meinem Mittribut und er scheint sich  ein wenig zu entspannen. Dachte Sash wirklich, dass ich eine von ihnen  geworden wäre oder werden wolle? Eine Anhängerin des Kapitols? Nie. Das  Kapitol hat durchaus seine Vorzüge. Die Duschen, das Essen. Aber  Distrikt 8 ist meine Heimat. Dort sind die Menschen vernünftig. Sie  fiebern den Hungerspielen nicht entgegen, sondern dem Moment, in dem  ihre Kinder 19 Jahre alt werden. Sie haben keine Geschmacksverirrung und  würden auch dann einfache und schlichte Kleidung tragen, wenn sie Geld  hätten, sich mehr als ein oder zwei Kleider leisten zu können.

Schweigend  setze ich mich neben Sash. Es dauert nicht lange und die anderen  tauchen auf. Zuerst Hestia. Natürlich. Mit hochgezogenen Augenbrauen  betrachtet sie mich, als sie sich mir gegenüber setzt. Ob wegen des  Kleides oder weil ich pünktlich bin, ich weiß es nicht. Yarnn starrt  mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Vielleicht habe ich das  bereits. Viele Tribute verlieren in der Arena ihren Verstand. Warum  nicht schon vorher? Roman und meine Stylistin kommen zuletzt. Roman  betrachtet mich überrascht. Meine Stylistin ignoriert mich schlicht. Was  mich nicht weiter stört.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt