Vom Finden und Verlieren

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Mitten in der Nacht schrecke ich aus dem Schlaf auf. Zum Glück vergesse  ich zu schreien. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich noch immer die  Bilder meines Albtraums vor mir. Ich steche das Messer tief in seine  Brust. Doch das ist nicht, was mich aus dem Schlaf gerissen hat. Als  mein Blick von seiner Brust nach oben gewandert ist, war es nicht das  Gesicht des Jungen aus Distrikt 7. Es war Eve! Ich habe Eve umgebracht.

Nein!  Habe ich nicht! Die Ereignisse des vergangenen Tages verschwimmen in  meinen Gedanken. Mühevoll versuche ich sie zu ordnen. So vieles, das  gestern passiert ist. Ava und ich sind Eve gefolgt, die vorausgegangen  ist. Wir sind ziellos durch die Wälder der Arena gestreunt wie schon am  Tag vorher. Mit jedem Schritt ist uns ein Stück unserer Kraft verloren  gegangen. Dann war da dieser Sumpf. Dieser Sumpf aus Schnee, in den Eve  tiefer und tiefer gesogen wurde. Ich wollte sie noch retten, wollte zu  ihr rennen. Doch Ava hat mich zurückgehalten. Und sie hatte Recht. Wenn  die Spielemacher einmal beschlossen haben, dass ein Tribut sterben muss,  dann kann sie niemand mehr davon abhalten. Ob ich auch schon auf ihrer  Todesliste stehe? Wir haben dabei zugesehen, wie Eve im Schnee ertrunken  und qualvoll erstickt ist. Sie hat es nicht verdient. Niemand hat  diesen Tod verdient. Doch wir hatten nicht einmal Zeit, uns von ihr zu  verabschieden. Der Junge aus Distrikt 7. Er hat mich angegriffen. Ich  wusste, dass ich sterben werde. Doch ich habe geschrien.

Ich  erinnere mich an ein Gespräch im Zug. Auf dem Weg ins Kapitol. Wie lange  das wohl her ist. Tage, Wochen, Monate? Ich weiß es nicht. Ich habe  jegliches Zeitgefühl verloren. Yarnn hat gesagt, meine Geheimwaffe wäre  das Sprechen. Ob er damals schon wusste, dass ich töten würde?  Sicherlich bin ich im Kapitol gerade Gesprächsthema Nummer 1. Die  meisten haben mir, gehörlos, Distrikt 8, wohl kaum Beachtung geschenkt,  trotz meiner beachtlichen Leistung im Einzeltraining. Ich denke nicht,  dass im Kapitol jemand, der nicht hören kann, sonderlich viel wert ist –  lassen sie sich doch von Menschen bedienen, denen sie die Zunge  rausgeschnitten haben. Aber jetzt. Jetzt bin ich interessant. Ich kann  reden. Und ich habe jemanden getötet.

Ich möchte nicht daran  denken. Ich möchte nicht daran denken, was für ein Monster das Kapitol  aus mir gemacht hat. Stattdessen muss ich daran denken, dass ich noch  lebe. Gerade noch. Erst jetzt merke ich, dass ich meinen Körper kaum  spüre. Von den wenigen Stunden, die ich ohne Schlafsack auf dem  schneebedeckten Boden verbracht habe, ist mein Körper völlig unterkühlt.  Die Tatsache, dass mein Kopf nicht mehr pocht und ich weder Durst noch  Hunger verspüre, liegt nicht etwa daran, dass ich plötzlich gesättigt  und ausgeruht wäre, nein.

Mit aller Kraft, die ich aufbringen  kann, versuche ich mich auf meine Arme gestützt aufzurichten. Doch ich  kann nicht einmal meine Arme bewegen. Nicht die Finger, nicht die Hände,  nicht die Arme. Panik steigt in mir auf. Mein Herz klopft schneller und  mein Atem wird hektisch. Ich versuche erneut, meine Arme zu bewegen.  Langsam spüre ich, wie Energie und Wärme in sie zurückströmt. Trotzdem  dauert es noch viel zu lang, bis ich mich auf wackeligen, unsicheren  Armen in eine sitzende Position bringen kann.

Mir wird wieder  bewusst, wie ungeschützt ich hier an dieser Stelle bin. Jeder, wirklich  jeder könnte mich jetzt töten, einfach so. Meine Finger spüre ich immer  noch nicht, aber das ist egal. Ich werde mir später Sorgen darum machen.  Stattdessen mühe ich mich mithilfe meiner immer noch relativ steifen  Arme meine Beine aufzustellen.  Es gelingt mir. Doch ich spüre sie  nicht. Ich spüre meine Beine nicht!

Ich beiße die Zähne zusammen  und versuche, mich aufzurichten. Der Kopfschmerz kehrt zurück, doch ich  ignoriere ihn und konzentriere mich ganz auf meine Beine. Ich stütze  meine Hände auf dem Boden ab und versuche, Gewicht auf meine Beine zu  übertragen. Mit aller Kraft, die ich noch irgendwie aufbringen kann,  stoße ich mich mit den Händen ab...und falle mit dem Gesicht voran in den  Schnee.

Mühsam bringe ich mich wieder in eine sitzende Position.  Tränen steigen mir in Augen und laufen heiß meine eisig kalten Wangen  hinunter. Ich will noch nicht sterben! Nicht so! Ich hätte gestern  sterben können – aufgeschlitzt von dem Jungen aus Distrikt 7, ich hätte  am Füllhorn sterben können, ich hätte wie Eve durch die Hand der  Spielmacher in einem Sumpf ertrinken können. Nicht so. Nicht jetzt. Ich  habe meinem Vater versprochen, zu gewinnen. Ich muss gewinnen!

Ich  atme tief durch, versuche in Gedanken all meine Energie in meine Beine  und in meine Arme zu lenken und probiere es noch einmal, mich  aufzurichten. Mit allerletzter Kraft stoße ich mich mit den Händen ab.  Ungefähr zwei Sekunden stehe ich auf meinen tauben Beinen, bevor sie  unter mir einknicken wie Streichhölzer. Zusammengesunken bleibe ich  sitzen und presse meine Hände auf das Gesicht, welches von den heißen  Tränen klatschnass ist. Ich habe verloren.

Yarnn! Warum hilfst  du mir nicht? Warum bekomme ich keine Sponsorengeschenke? Habe ich nicht  gestern bewiesen, dass ich nicht irgendein armes, hilfloses Mädchen aus  Distrikt 8 bin? Vielleicht – aber so, wie ich mich jetzt gebe, wird es  keinem Kapitolaner einfallen, mich zu sponsern. Aber ich brauche Hilfe!  Yarnn!

Als ich spüre, wie jemand mich berührt, schrecke ich auf.  Auch diesmal vergesse ich glücklicherweise zu schreien, denn wenngleich  ich meine Arme wieder bewegen kann, wäre ich nicht schnell genug, eine  Hand in den Mund zu stecken und den Schrei zu ersticken. Ich blicke  panisch um mich, doch als ich die braunen Locken erkenne, die im Schein  des Mondes unter ihrer Mütze aufleuchten, entspanne ich mich und atme  erleichtert aus.

Aus großen, besorgten Augen blickt Ava mich an.  Ich breite die Arme aus, um sie zu umarmen, doch sie weicht zurück. Ihr  Blick liegt auf dem Messer, an dem getrocknetes Blut klebt; auf meinen  Overall, der nicht mehr einheitlich grau, sondern rot gesprenkelt ist.  Sie erstarrt. Sie weiß Bescheid. Natürlich weiß sie Bescheid. Gestern  sind genau zwei Tribute gestorben – ich nehme an, dass ich eine dritte  Kanone durch den Boden gespürt hätte, hätte es eine gegeben. Ava hat  zugesehen, wie Eve ertrunken ist. Den Jungen aus ihrem Distrikt hat sie  am Himmel gesehen. Und ich. Ich bin voller Blut. Habe ein  blutverschmiertes Messer bei mir. Sie ist nicht dumm.

„Es tut mir  so leid", wispere ich und in meinen Augen brennen die Tränen, „Ava, es  tut mir so leid!" Ich möchte sie in den Arm nehmen, möchte sie trösten,  doch sie weicht zurück. Die Augen aufgerissen. Das Gesicht weißer als  der Schnee.

Da weiß ich endgültig, dass sie mich nicht angelogen  hat. Dass das Blut auf ihrem Overall weder von ihr noch von ihrem Opfer  stammt. Weil sie stärker ist als ich. Weil sie keine Marionette des  Kapitols ist. Weil sie nie töten könnte. Nie.

Stumm reicht Ava  mir eine Frucht, die einem Apfel ähnelt, aber nicht erfroren ist. Ohne  mich anzusehen zieht sie den Schlafsack über meine steifen Beine. Ich  beobachte sie stumm dabei. Bis sie den Schlafsack hoch zu meinen  Schultern gezogen hat. Dann wendet sie sich ab, den Blick gesenkt. Ich  strecke die Hand nach ihr aus, doch ich dem Schlafsack bin ich gefangen.  Ich beobachte, wie sie zum nächsten Baum geht. Ich beobachte, wie sie  sich höher und höher bis in die Krone hangelt. Dort hängen die Früchte.

Fassungslos  starre ich auf die Frucht in meinen Händen. Die Tränen laufen leise  meine Wangen hinunter und gefrieren auf dem Außenfell meines Overalls.

Ich  habe meine Verbündete wiedergefunden. Und doch habe ich sie in eben  demselben Moment verloren. Ich kann Ava verstehen. Ich habe den Jungen  aus ihrem Distrikt getötet. Aber ich wollte das nicht. Ich wollte  doch...nur leben. In der Arena gibt es nur zwei Möglichkeiten – töten oder  getötet werden. Ich wollte doch nur leben. Ich möchte doch nur meine  Familie wiedersehen. Das wollte er auch. Jetzt ist er in einer Holzkiste  auf dem Weg nach Distrikt 7. Warum tut das Kapitol uns das an? Wir  waren keine Feinde. Wir haben einander nicht gehasst. Ich hasse das  Kapitol. Das Kapitol, das uns zu all dem hier zwingt. Das uns in seiner  Gewalt hat. Wie Spielfiguren auf einem Schachfeld. Aber in der Arena  sind nur weiße Figuren.

Ich starre auf die Frucht in meinen Händen und mein Blick verschwimmt.

Ich wollte das nicht!!

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt