das Blut breitet sich aus

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Laufen! Ich muss laufen! Ich stehe wie festgefroren auf meiner  Startplattform und sehe stattdessen, wie sie läuft. Ava. Sie ist eine  der Ersten, die Richtung Füllhorn stürmen. Schneller noch als die Hälfte  der Karrieros. Flink wie ein Eichhörnchen. Leichtfüßig wie ein Fuchs.  Dann erreichen die Ersten das Füllhorn.

Sie ist die Erste, die  stirbt. Mit vor Entsetzen weitaufgerissenen Augen beobachte ich, wie der  brutale Junge aus Distrikt 1 seinen Speer in ihren Körper rammt, als  wäre er nichts. Als wäre er nicht aus Fleisch und Blut und Knochen. Der  Junge zuckt nicht einmal mit der Wimper, sondern reißt den Speer wieder  aus dem Körper und wendet sich ab, auf der Suche nach einem neuen Opfer.  Mein Blick weiterhin auf ihren Körper gerichtet. Ich meine das Röcheln  zu hören, mit welchem sie zu Boden geht. Wie eine Marionette, der man  die Fäden abgeschnitten hat. Doch sie ist keine Marionette. Sondern ein  Mensch. Das dunkelrote Blut schießt unaufhörlich aus der tiefen  Bauchwunde. Das bleiche Gesicht ist vor Höllenqualen verzerrt.  Schneeweiß auf Schnee. Blutrot auf Schnee. Die Haare, die unter der  grauen Mütze hervorblitzen leuchten so dunkelrot wie das Blut, dass aus  ihrer Brust schießt. Blutrot auf Schnee. Avas Haare sind braun und  gelockt. Es ist das Mädchen aus Distrikt 5, welches dem brutalen Einser  als Erstes zum Opfer gefallen ist. Nicht Ava. Noch lebt sie.

Warum  muss die Rothaarige sterben? Warum? Was hat sie ihm getan? Dem Jungen  aus Distrikt 1? Nichts. Außer dem Verbrechen zu leben, während er lebt.  Doch es darf nur einer leben. Überleben. Einer von 24. Sie stirbt. Das  Blut breitet sich aus.

Ich reiße meinen Blick mit aller  seelischer Kraft, die ich noch aufbringen kann, von dem im Schnee  beinahe unsichtbaren Körper, der sich im letzten Todeskampf windet, los.  Noch mehr Blut. Der Kampf hat begonnen. Und mit ihm das Morden und  Sterben. Ich. Muss. Hier. Weg.

Endlich erwacht mein Körper aus  seiner Schreckstarre und ich renne, wie ich in meinem Leben noch nie  gerannt bin. Nie. Renne in Richtung Wald, während der Pulverschnee unter  meinen Füßen aufwirbelt. Fliehe. Weg vom Füllhorn. Weg von all dem  Blut. Weg von den Kämpfenden, Mordenden und Sterbenden. Weg von dem  Jungen aus Distrikt 1. Weg von dem sterbenden Mädchen aus Distrikt 5,  das das Erste ist, das stirbt. Dem der Junge aus Distrikt 1 als sein  erstes Opfer seinen Speer in den Bauch gerammt hat. Es wollte kein  Bündnis mit mir eingehen, weil ich nicht hören kann. Doch seine  Todesschreie scheinen mich zu verfolgen. Unaufhörlich. Ich presse mir  die Hände auf die Ohren, doch es hilft nichts. Die Schreie werden  lauter.

Ich laufe. Renne. Beinahe blind. Doch ich verlangsame  meine Schritte nicht. Mein Atem geht immer schneller, während meine  Kräfte bereits zu schwinden beginnen. Dabei habe ich noch nicht einmal  die Hälfte des Weges zwischen Füllhorn und Wald hinter mich gebracht.  Zwischen den Mordenden, Kämpfenden und Sterbenden und einem sicheren  Unterschlupf. Doch wie sicher ist er wirklich?

Der Schnee wird  mich verraten. Meine Schritte im Schnee. Jeder Karriero kann mich  verfolgen, selbst wenn er gerade nicht sehen sollte, wohin ich laufe.  Die Abdrücke meiner Schuhe im weichen Pulverschnee werden mich verraten.  Doch ich kann nichts machen. Ich muss laufen.

Ich laufe immer  weiter. So schnell ich kann. So schnell wie noch nie in meinem Leben.  Meine beinahe über den Schnee zu fliegen. Bis ich falle. Als ich meinen  rechten Fuß zum wiederholten Male aufsetzen möchte, rutsche ich im  weichen Schnee aus. Strauchele. Versuche, das Gleichgewicht wieder zu  gewinnen, indem ich mit den Armen rudere. Doch es gelingt mir nicht.  Stattdessen falle ich in den kalten, weißen, weichen Schnee. Mit dem  Gesicht voraus. Gerade noch rechtzeitig kann ich mich mit den Händen  abstützen und somit verhindern, dass ich mit dem Kopf hart auf dem Boden  aufschlage.

Mein Atem geht schnell. Viel zu schnell. Mein Herz  klopft. Dann spüre ich einen Luftzug über mir. Vor Schreck atme ich  Schnee ein und verschlucke mich. Ich muss husten, spucke das kalte Nass  angewidert und nach Luft ringend aus. Keuchend bleibe ich am Boden  liegen. Warte darauf, dass ein weiterer Luftzug über mich zieht. Warte  darauf, dass der Junge aus Distrikt 1 seinen Speer in meinen wehrlosen  Körper rammt. Warte.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt