Luxus

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Ich  bin keine fünf Minuten alleine, als die Tür aufgerissen wird und Hestia  hereingetänzelt kommt. Sie sagt etwas zu mir und ich folge ihr  schweigend aus dem Raum. Auf dem Gang gesellen sich mein Mittribut,  dessen Namen ich immer noch nicht kenne und zwei Friedenswächter sowie  Yarnn. Ich sehe dem Jungen an, dass er offenbar wieder geweint haben  muss. Er tut mir leid, wirklich, aber wenn ich gewinnen  will...andererseits hat er sicherlich bessere Chancen als ich.

Wir  werden durch eine Hintertür hinausgeführt. Dort wartet bereits ein  silbernes Auto auf uns. Ich habe noch nie ein Auto gesehen, so etwas  gibt es bei uns in 8 nicht. Abgesehen davon sind die Straßen, wenn man  es überhaupt Straßen nennen kann, sowieso viel zu schmal und schlecht  ausgebaut. Die Sitze im Auto sind mit rotem Samt bezogen und ich fühle  mich plötzlich unwohl in so viel Sauberkeit. Als ich zusammen mit meinem  Mittribut und der Betreuerin auf die Rückbank gequetscht da sitze,  streiche ich unbewusst über den weichen Stoff. Dabei nehme ich kaum war,  wie die düsteren, grauen Straßenzüge von meinem Distrikt an mir vorbei  ziehen.

Wir erreichen den Bahnhof und als wir das Auto  verlassen, sehe ich hinter einer Absperrung, die die Friedenswächter  sichern, einige der Bewohner aus Distrikt 8. Sind sie wirklich gekommen,  um uns zu verabschieden, oder sind sie einfach nur froh, dass ihre  Familien wieder ein Jahr verschont wurden? Hestia stolziert uns voran  zum Zug. Ich lasse meinem Blick an ihm entlangschweifen und muss  schlucken. Dieses Ding ist sicherlich so groß wie dreißig oder vierzig  von den Hütten, in denen Familien wie meine Leben! Er glänzt silbern und  hebt sich dadurch besonders von dem Schmutz und Dreck hier in Distrikt 8  ab.

Bevor ich hinter Hestia die Stufen zum Zug hinaufsteige,  drehe ich mich nochmal um. Ich erkenne die zahlreichen Fabrikkamine und  –türme, die wie hässliche Säulen in den grauen Himmel ragen. Aus einigen  der Kamine steigt bereits wieder Rauch. Kaum ist die Ernte vorbei,  müssen die Leute wieder zurück an ihre Arbeit gehen; sie brauchen das  Geld und sie werden von den Friedenswächtern dazu gezwungen. Ich wende  mich von dem trostlosen Anblick, der mein Zuhause darstellt ab, und  erklimme die Stufen in den Zug.

Als ich durch die Tür trete, habe  ich augenblicklich Angst, auszurutschen. Der Boden ist so glatt und  glänzend, dass er aus Eis sein müsste. Vorsichtig, um auch wirklich  nicht hinzufallen, setze ich einen Fuß vor den anderen. Dann fällt es  mir ein. Im Zug ist es viel zu warm, als dass der Boden aus Eis bestehen  könnte. Erleichtert atme ich tief durch und sehe mich um. Der Gang, von  dem Türen zu verschiedenen Abteilen abzweigen scheint in etwa so groß  wie unser Wohn-, Schlaf- und Essbereich zuhause zu sein. An der Decke  hängt ein pompöser Kronleuchter, der ein grelles, unangenehmes Licht  verströmt. Ich kneife die Augen zusammen, Kerzen sind mir doch lieber.

Ungeduldig  winkt Hestia meinen Mittribut, der hinter mir auch den Zug betreten hat  und sich mit großen Augen umsieht, und mich durch eine Tür in einen  riesigen Raum, eigentlich ein Saal. Auch hier glänzen der Boden und die  Wände, als ob jemand tage- und nächtelang geschrubbt hätte. Vermutlich  ist das sogar der Fall, aber diese klinische Sauberkeit beunruhigt mich.  An der Decke hängen drei Kronleuchter, die den ganzen Raum in  gleißendes Licht tauchen. Es gibt eine Sitzecke mit je zwei Sofas und  zwei Sesseln, die mit einem dunkelblauen Stoff bezogen sind, und einem  tiefen Glastisch in der Mitte. Außerdem einen weiteren, höheren  Glastisch, um den sechs elegante Holzstühle platziert sind. An den  Wänden überall im Abteil verteilt stehen Serviertische, die mit allem  möglichen vollgestellt sind, Karaffen mit Flüssigkeiten in allen Farben  des Regenbogens, Pralinen, die einen giftgrünen Farbton haben, Obst, das  mit einer fliederfarbenen Glasur überzogen ist. Essbar sieht das nicht  gerade aus.

Mir wird schlecht. So viel Essen! Während die Leute  in den Distrikten hungern müssen und froh sind, wenn sie sich etwas Brot  und eine dünne Suppe leisten können. Ich werde von diesem Zeug nichts  anrühren!

Als mich jemand an der Schulter fast, zucke ich  erschrocken zusammen und richte meinen Blick Yarnn, unseren Mentor. Er  sagt irgendetwas, während er Richtung Tür gestikuliert. Ich sehe zur Tür  hinüber und entdecke Hestia, die dort sichtlich genervt auf mich  wartet. Mein Mittribut steht rechts neben ihr und hält den Kopf gesenkt.

Ich  seufze und gehe, gefolgt von Yarnn, zu den beiden hinüber. Hestia sagt  irgendetwas zu mir, dann dreht sie sich mit arroganter Haltung um und  schreitet uns voran den Gang entlang.
Ich frage mich, wann sie wohl  merken werden, dass ich nicht nicht hören will, sondern nicht hören  kann. Werde ich es vorher sagen müssen, oder kommen sie selbst darauf?  Wie werden sie reagieren? Momentan scheint Yarnn noch relativ  zuversichtlich zu sein, was meine Chancen auf den Sieg angeht, aber wenn  er erst einmal gehört hat, dass ich gehörlos bin, wird er mich  abschreiben. So wie alle anderen auch – Mum, Lea, Lacey, ich...nur Dad  glaubt, dass ich wirklich eine Chance haben könnte, aber das ist  lächerlich. Schon schlimm genug, dass ich die anderen Tribute nicht  höre, wenn sie sich anschleichen, aber sie können auch an getrampelt  kommen, das würde keinen Unterschied machen.

Hestia zeigt gerade  meinem Mittribut sein Abteil und führt mich einige Meter weiter zur  nächsten Tür. Dort bleibt sie stehen und entlässt mich mit den  Worten...nun ja, irgendetwas sagt sie jedenfalls.

Ich trete durch  die Tür, die sich sofort öffnet, bevor ich sie auch nur berühren kann.  Ich lasse meinen Blick staunend über das riesige Abteil schweifen. Mir  direkt gegenüber steht ein Bett, das wahrscheinlich zehnmal so viel wert  ist wie unsere gesamte Hütte. Das Bettgestell ist schwarzlackiert und  die Bettlacken sind von einem solch strahlenden Weiß, dass mir die Augen  tränen. Neben dem Bett steht ein riesiger, ebenfalls schwarzer Schrank.  Außerdem befinden sich noch ein Sessel und ein Schminktisch in dem  Raum. Neben dem Tisch ist eine weitere Tür, die offenbar ins Bad führen  muss. Dieser verschwenderische Luxus. Immerhin ist der Boden hier nicht  so glänzend wie im restlichen Zug, sondern besteht aus dunklem Teppich.

Ich  streife die Schuhe ab und setze mich auf den weichen Boden. Ich  streiche mit der Hand darüber und lasse mich dann nach hinten sinken.  Obwohl ich gerade nur auf dem Boden liege, fühlt es sich weicher und  bequemer an als das Strohbett, auf dem meine Schwester und ich zuhause  schlafen.

Plötzlich bin ich wahnsinnig erschöpft. Das frühe  Aufstehen, die Ernte, die Angst, der Zug...Ich schließe die Augen,  vielleicht kann ich ja etwas schlafen, bis ich geholt werde.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt