Danach

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Ich  stehe immer noch wie eingefroren an der Tür meines Zimmers. Hat Durian  mich gerade wirklich geküsst? Es ist ein schönes Gefühl. Ob er es ernst  mit mir meint? Meine ich es ernst mit ihm? Ich weiß es nicht. Morgen und  übermorgen, dann muss ich bereits in die Arena. Soll ich mich  tatsächlich darauf einlassen? Ist es klug, einen Jungen so nahe an mich  heranzulassen, um ihn und mich durch meinen baldigen Tod ins Unglück zu  stürzen? Ich möchte nicht, dass Durian wegen mir noch mehr leidet, als  er es sowieso schon tut. Aber ich möchte doch versuchen, zu gewinnen.  Für ihn, für meine Familie und meine Freundin zuhause in Distrikt 8. Ist  mein Wille wirklich stark genug? Ist mein Wille so stark, dass ich mich  ohne schlechtes Gewissen auf Durian einlassen darf? Ich weiß es nicht.

Immer  noch wie in Trance tapse ich hinüber zu der riesigen Fensterfront, um  eines der Fenster zu öffnen. Mir ist immer noch ganz heiß und in der  Spiegelung der Fenster erkenne ich, dass ich offenbar immer noch glühe.  Mit schwitzigen Händen versuche ich die Fenster zu öffnen, doch  scheitere kläglich an diesem Versuch. Letztendlich greife ich nach der  kleinen Fernbedingung auf meinem Nachttisch, mit welcher ich es bereits  geschafft habe, den Rollladen zu öffnen und zu schließen. Ich probiere  alle möglichen Tasten aus – unter all den Funktionen, die unter anderem  die gesamte Fensterfront in das riesige Abbild eines Nadelwaldes oder  auch einer Wüste verwandeln kann, finde ich zu guter Letzt eine  Funktion, mit der sich die Fenster öffnen lassen.

Öffnen ist  vielleicht das falsche Wort. Es werden lediglich schmale Spalten  oberhalb der Fenster aufgeschoben. Ich überlege kurz, ob ich mich bei  Yarnn oder Hestia beschweren solle oder ob ich Durian nochmals holen  solle, um ihn zu fragen, ob er mir bitte die Fenster öffnen könne,  entscheide mich aber schließlich dagegen. Sicherlich ist das vom Kapitol  so beabsichtigt, dass wir die Fenster nicht öffnen können, damit sich  keiner der Tribute aus dem Fenster stürzen und somit aus dem Verkehr  ziehen kann. Es wäre wahrscheinlich eine Schande für das Kapitol, wenn  sie noch in einer solch späten Phase des Trainings einen neuen Tribut in  einem der Distrikt organisieren müssten. Als ob auch nur einer von uns  es überhaupt nur erwägen würde, aus dem Fenster zu springen. Die  Karrieros sind freiwillig hier und alle anderen einschließlich mir  selbst sind zu verängstigt.

Ich versuche, aus der wenigen  „frischen" Luft das Beste zu machen und atme tief durch. Angewidert  verziehe ich das Gesicht. Es riecht nach Abgasen. Ich meine, dass sogar  in Distrikt 8 die Luft besser ist, und das mag was heißen, wird doch  unsere Luft tagtäglich von den Ausdünstungen der Fabriken verpestet.  Aber vielleicht ist das auch nur Einbildung, weil ich meine Heimat  vermisse. Wie es wohl meinen Eltern geht, Lea und Lacey? Wie haben sie  auf meinen Auftritt vorgestern bei der Parade reagiert? Wie haben sie  darauf reagiert, dass ich die fröhliche, aufgeregte Tributin gemimt  habe? Haben sie meine Masche durchschaut? Oder ist ihre Hoffnung darauf,  dass ich gewinnen könnte, gestiegen?

Ich weiß immer noch nicht,  ob ich auch nur die geringste Chance habe. Da sind die Karrieros, allen  voran der Junge aus Distrikt 1, für den ich wahrscheinlich auf der  Abschussliste aus welchen Gründen auch immer ganz oben stehe. Dann ist  da noch der Junge aus Avas Distrikt, zusammen mit seinen Verbündeten aus  Distrikt 3 und 5. Ich weiß nicht, wie viel für den Siebener die  gemeinsame Herkunft wert ist, es gibt viele Tribute, die bereits in der  Anfangsphase ihre Mittribute aus dem eigenen Distrikt erledigen.

Daran  darf ich nicht denken, wenn ich gewinnen will. Ich bin nicht dumm und  ich bin nicht hilflos, auch wenn ich seit über drei Jahren nichts mehr  gehört habe. Sash hat Recht, ich kann gut mit dem Messer umgehen und ich  habe eine Verbündete. Sie ist zwar beinahe die Jüngste von uns allen,  aber sie ist klug. Ich werde mich noch nicht aufgeben. Ich darf mich  noch nicht aufgeben. Ich möchte nicht, dass meine Familie um mich  trauern muss. Ich möchte nicht, dass ich Durian verliere, da ich ihn  doch eben erst gewonnen habe.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt