ein anderes Beben

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Das nächste Mal werde ich dadurch geweckt, dass die Erde bebt. Nicht  so wie sie immer zittert, wenn die Kanone einen weiteren Tod verkündet.  Nein. Das Beben sitzt viel tiefer im Boden, weit unten, und es ist  andauernder, durchdringender. Gefährlicher.

Die Abenddämmerung  hat bereits eingesetzt und so kann ich in meinem Fieberwahn meine beiden  Verbündeten zunächst nur schemenhaft erkennen. Meine Augen brauchen  eine gefühlte Ewigkeit, bis sie sich an die einsetzende Dunkelheit  gewöhnen, während das Beben sich vertieft und andauert. Was passiert  hier? Werden wir jetzt alle sterben?

Irgendwann hat sich mein  Blick geklärt und ich sehe Ava und Willow, die ein, zwei Meter von mir  entfernt auf dem Boden kauern. Trotz der einsetzenden Dunkelheit heben  sich ihre angstvollen Gesichter schneeweiß von den Baumstämmen und dem  Boden, der doch selbst schneeweiß ist, ab. Willow hat ihren Bogen  umklammert, als ob er irgendetwas ausrichten könnte. Ava hat den  Rucksack wie einen Rettungsring an sich gepresst – doch vor der Macht  der Spielmacher kann sie nichts und niemand retten. Wir alle sind ihnen  wehrlos ausgeliefert. Doch warum? Was geschieht? Warum lassen sie die  Erde erbeben? Werden die Bäume über uns zusammenkrachen? Wird sich eine  Lawine aus dem Bergen lösen und ins Tal donnern, uns begraben, bis wir  unter den Schneemassen ersticken? Wo sind die anderen? Die Karrieros?  Der Junge aus 4? Das Mädchen aus 3 und seine Verbündete? Bebt die Erde  unter ihnen wie sie unter uns bebt? Oder ist das eine Strafe ganz allein  für uns? Eine Strafe wofür? Dass wir noch leben? Weil das Kapitol weder  eine Taube aus Distrikt 8, noch ein kleines unschuldiges Kind aus  Distrikt 7 oder ein von Liebeskummer erfülltes Mädchen aus Distrikt 11  als Sieger haben will? Doch warum jagen sie uns keine Mutationen auf den  Hals? Weil sie uns quälen wollen? Sie haben uns schon genug gequält!  Lasst mich doch einfach sterben!

Schreckerstarrt kauere ich auf  dem Boden in den Schlafsack eingeklemmt. Ich kriege keine Luft. Ich habe  Fieber. Mein Kopf könnte jeden Moment explodieren und ich... mir ist so  heiß. Ich habe Durst. Das Fieber! Mein Kopf fühlt sich an wie die heißen  Kohlen eines Ofenfeuers.

Ich sehe den Jungen aus Distrikt 3.  Blut, überall Blut. Er stürzt sich auf mich. Seine blutroten Finger  umklammern meinen Hals. Drücken zu. Ich kriege keine Luft mehr. Ich  werde sterben. Hier und jetzt. Das Blut! Überall nur Blut! Ich schlage  um mich, versuche mich zu befreien. Doch je stärker ich mich wehre,  desto fester wird sein Klammergriff. Ich merke schon, wie das  Bewusstsein langsam von mir schwindet. Nicht mehr lange, dann bin ich  erlöst. Endlich. Kein Leid mehr! Aber warum? Da ist noch immer das Blut.  Überall. Rot. Rot. Rot. Der wahnsinnige Blick auf dem Gesicht des  Jungen aus Distrikt 3. Es kommt immer näher. Das Gesicht. Näher. Und  näher. Und näher. Und...

Als die Kanone den Boden durchzuckt, werde  ich aus meinem Wahn gerissen. Die Erde bebt immer noch, doch die Kanone  ist anders. Ich habe sie gefühlt. Ich bin noch auf unserer Lichtung.  Hier ist kein Junge aus Distrikt 3. Er ist tot. Ich habe ihn getötet.  Ich, eine Mörderin. Aber er ist nicht hier. Nur ich. Und Ava. Und  Willow. Sie scheinen von blankem Entsetzen erfüllt. Haben sie die Kanone  gehört? Oder ist es wegen mir? Wieviel haben sie gesehen? Haben sie den  Jungen aus Distrikt 3 gesehen? Nein, haben sie nicht. Niemand kann ihn  sehen. Er ist tot. Niemand außer ich. Er wird mich nie verlassen.  Niemals, bis ich sterbe.

Ich nehme kaum wahr, wie das Beben in  der Erde immer schwächer wird. Schwächer und schwächer. Doch das Beben  in mir wird nie verebben. Er wird immer da sein, der Junge aus 3 und der  Junge aus 7.

Jemand presst sich an mich und legt einen Arm um  mich. Hält mich fest. Mit einer geschwächten, vom Fieber zittrigen Hand  taste ich nach der zweiten, freien Hand. Ich drücke die Hand. Ava presst  sich an mich. Ein unkontrolliertes Schütteln geht von ihr aus. Wie die  Erde, die nun aufgehört hat, nur sanfter und gleichzeitig qualvoller.  Ich spüre ihre Tränen, nass und kalt an meinem schweißnassen Hals.  Willow kauert noch an derselben Stelle wie vorher,  ihren Bogen  umklammert. Ihr Gesicht voller Angst. Warum tut uns das Kapitol das an?  Was haben wir ihnen getan? Was haben die Distrikte ihnen getan?

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt