Die Ernte

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Ich  reihe mich mit Lacey zusammen in eine der Reihen zum Registrieren ein.  Als ich dran bin, spüre ich  den Einstich in meinen kleinen Finger kaum.  Anschließend gehe ich mit meiner Freundin zusammen hinüber zu den  anderen sechzehnjährigen Mädchen.

Als wir sie erreichen, weichen  einige der Mädchen vor mir zurück. Ich presse die Lippen zusammen und  versuche die Tränen, die mir ins Gesicht steigen, zu verdrängen. Warum  nur haben die Anderen Angst vor mir? Seit wann ist Gehörlosigkeit  ansteckend?

Ich spüre, wie Lacey meine linke Hand nimmt und sie  beruhigend drückt. Wie dankbar ich ihr doch bin. Sie ist die Einzige,  die mir neben meiner Familie noch geblieben ist.

Am Mittwoch  nach jenem schicksalshaften Dienstag bin ich wie jeden Morgen zur Schule  gegangen. Ich wollte Normalität und hatte Angst, den Anschluss zu  verlieren. Meine Schwester hat mich damals in mein Klassenzimmer  begleitet, um der Lehrerin zu berichten, was geschehen ist. Als der  Unterricht begann, erzählte die Lehrerin meinen Mitschülern von meinem  Unfall, bevor sie wie gewohnt mit dem Unterricht begann. In der Pause  war ich die letzte, die das Klassenzimmer verlies, da die anderen alle  schon auf den Pausenhof verschwunden waren. Ich beobachtete eine Gruppe  Mädchen aus meiner Klasse, die mit einander tuschelten, doch als ich  mich zu ihnen gesellen wollte, wichen sie fast angewidert zurück. Also  zog ich mich in eine Ecke zurück und lies meinen Tränen freien Lauf.  Irgendwann hielt mir jemand ein schmuddeliges Taschentuch hin. Es war  Lacey.

Ich lächele meine Freundin an, bevor ich den Blick nach  vorne zur Bühne richte. Dort erscheint gerade der Bürgermeister von  Distrikt 8, gefolgt von der Betreuerin Hestia sowie dem Mentor Yarnn  Burton. Yarnn gewann vor über 30 Jahren die 13. Hungerspiele im Alter  von 17 Jahren, mittlerweile ist er 50 Jahre alt. Vor drei Jahren hatte  Distrikt 8 einen weiteren Sieger, Calico Spinnson, der seine Spiele mit  16 Jahren gewann. Doch nach seinem Sieg war der Junge total verstört und  er nahm sich vor der Ernte zu seinem ersten Jahr als Mentor das Leben.  Es wurde eine Sendung ausgestrahlt, in der der Präsident höchst selbst  bekundete, wie leid es ihm tue, dass ein Sieger von uns gegangen sei,  und danach wurde von uns erwartet, dass alles wieder seinen gewohnten  Gang ginge.

Nach der Ansprache des Bürgermeisters Turpin tritt  Hestia nach vorne ans Mikrofon. Die Betreuerin sieht wie jedes Jahr  einfach nur lächerlich aus. Die Kapitolbewohner leiden offenbar alle an  Geschmacksverirrung. Hestia trägt ein glitzerndes, regenbogenfarbenes  Kleid und passend dazu hat sie ihre Haare in allen erdenklichen Farben  getönt. An ihren Armgelenken klimpern goldene Armreifen, von denen eine  Familie aus dem Saum höchstwahrscheinlich einen Monat leben könnte. Ich  bin so froh, dass ich ihre piepsige, hohe Stimme nicht mehr hören kann.  Es reicht schon, sich an die Jahre erinnern zu müssen, in denen ich es  noch konnte. Sie begrüßt also alle ganz herzlich, bevor sie auf die  großen Leinwände links und rechts von der Bühne zeigt, auf denen der  Film eingeblendet wird, den sie jedes Jahr bei der Ernte zeigen. Im  Hintergrund läuft natürlich die Hymne von Panem. Obwohl ich nun seit  mehr als drei Jahren gehörlos bin, kann ich die Melodie dennoch in  meinem Kopf hören. Wenn man ein Lied 13 Jahre lang seit seiner Geburt  mindestens einmal im Jahr hören muss, vergisst man es nicht so schnell.  Anders als all die anderen kann ich mir nicht die Ohren zu halten, um  die Hymne nicht hören zu müssen. Vielleicht würde es helfen, wenn ich  die Augen schließe und den Film nicht mehr sehen kann?

Ich  schließe die Augen nicht und als die Bildschirme schwarz werden, tänzelt  Hestia hinüber zu der Kugel mit den Losen der Mädchen. Auf neun Zettel  steht feinsäuberlich mein Name. Corina Henson. Aber sie wird mich nicht  ziehen. Andere haben mehr Lose als ich. Ich muss nicht in die  Hungerspiele, das würde ich nicht überleben.

Ich beobachte, wie  Hestia mit der Hand in der Kugel rührt, bis sie einen Zettel greift und  ihn herauszieht. Sie geht zurück zum Mikrofon und faltet das Stück  Papier auseinander. Nicht mein Name! Bitte nicht mein Name!, schreie ich  innerlich.

Hestia öffnet den Mund und sagt zwei Worte. Einen  Vor- und einen Nachnamen. Die Hand, die meine linke umfasst, verkrampft  sich. Nein! Es wird nicht Lacey sein! Wenn sie in die Hungerspiele muss,  habe ich niemanden mehr!

Ich drehe meinen Kopf in Richtung  meiner Freundin. Sie ist ganz bleich geworden und starrt mich an. Starrt  mich an. Starrt mich an. Dann zeigt sie mit ihrer freien, zitternden  Hand, zuerst auf mich und dann zu Bühne. Ich... Es ist mein Name. Hestia  hat meinen Namen gezogen. Ich muss in die Hungerspiele. Ich werde als  Tribut für Distrikt 8 in die 101. Hungerspiele ziehen. Und ich werde  nicht wiederkehren.

Ich starre Lacey an und ich spüre, wie die  Tränen, die mir vorhin in die Augen gestiegen sind, heiß meine Wangen  hinunterrinnen. Plötzlich geht ein Ruck durch meine Freundin und sie  lässt meine Hand los. Noch bevor sie ihren Mund öffnen kann, presse ich  ihr meine rechte Hand auf den Mund. Noch schlimmer als selbst in den  Hungerspielen zu sterben, ist eine Freundin, die dort stirbt.

Lacey  sieht mich verzweifelt an; auch sie weint. Ich schüttele den Kopf und  umarme sie. Bevor ich nach vorne zur Bühne schreite, wische ich mir über  das Gesicht, um die Tränen zu trocknen. Dann laufe ich durch die Gasse,  die die anderen Mädchen mir gemacht haben, zur Bühne.

Ich weine  nicht mehr, aber ich kann nicht verhindern, dass meine Beine zittern.  Ich schüttele Hestia die Hand, bevor ich mich an den mir zugewiesenen  Platz stelle.

Die Betreuerin geht hinüber zur Jungenkugel und  zieht einen Zettel. Ich beobachte, wie Bewegung unter die 14jährigen  Jungen kommt und schließlich ein zierlicher Junge auftaucht und zur  Bühne geht. Ich kenne ihn nicht, aber er ist nicht so dünn wie ich und  seine Kleidung ist ordentlich. Vermutlich ein Kaufmannssohn. Er ist  kreidebleich und er weint. Ich habe Mitleid mit ihm. Immerhin weiß ich,  wie es ist, ums Überleben zu kämpfen. Der Junge sieht nicht aus, als ob  er jemals zu wenig gehabt hätte.

Als ich ihm die Hand schütteln muss, sehe ich ihn nicht an. Es kann nur einer überleben.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt