der Regenbogen des Todes

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Wir suchen noch einige weitere Male die freie Fläche zwischen den Bergen  und dem Wald ab, bevor wir es als sicher genug empfinden, hinüber zum  Wald zu laufen. Wir gehen gebückt und langsam.

Mein Blick fliegt  immer wieder panisch von rechts nach links. Von links nach rechts. Ich  erwarte jederzeit ein Messer, einen Speer oder einen Pfeil zu spüren,  der sich durch meine Brust bohrt und mir das Leben nimmt. Nicht, dass  ich es nicht verdient hätte. Denn das habe ich. Aber ich habe mir  geschworen, dass ich Ava helfen werde, so lange ich noch kann. Sie muss  gewinnen. Nur sie.

Wenn sie jetzt vor mir zusammenbrechen würde,  mit einem Messer in der Brust. Ich würde es herausreisen und in meiner  eigenen Brust versenken. Mich endlich von all den Qualen erlösen. Aber  noch kann ich nicht.

Stattdessen folge ich dem anderen Mädchen  auf unserem Weg in die trügerische Sicherheit des Waldes. Meine Ohren  sind ganz taub von dem eisigen Wind, dem wir hier ungeschützt ausgesetzt  sind. Ein unangenehmer Schmerz zieht von den Ohren in meinen Kopf  hinein. Meine Hände spüre ich kaum noch. Ich zittere. Mein Overall ist  durchnässt von meiner Säuberungsaktion, nun ist die Nässe durch die  Stoffschichten gedrungen. Es ist mir egal.

Nur noch zwanzig Meter  bis zum Wald. Nur noch zehn Meter. Meine Blicke werden hektischer. Wenn  die Karrieros uns jetzt entdecken, ist alles verloren. Noch fünf Meter.  Ich stolpere über meine eigenen Beine, weil ich nicht hinsehe. Einfach  liegen bleiben und sterben. Heißt es nicht immer, Erfrieren sei ein  schöner Tod? Nein, ich darf noch nicht aufgeben. Wenn schon nicht für  mich, dann für Ava. Mühsam rappele ich mich wieder auf und laufe weiter.  Folge meiner Verbündeten, die mittlerweile die Bäume erreicht hat und  sich zu mir umdreht. Noch zwei Meter. Dann habe auch ich den Wald  erreicht.

Wie Ava wage ich ebenfalls einen Blick zurück. Die  Berge, die freie Fläche davor, Richtung Füllhorn. Alles weiß und  verlassen. Als ob wir alleine wären. Was wir nicht sind. Wir sollten  weiter. Hier am Waldrand sind wir nicht sicher. Nirgends in der Arena  sind wir sicher, aber die Schatten, die die Bäume auf den Waldboden  werfen, gaukeln eine Sicherheit vor, die es nicht gibt. Also folge ich  Ava.

Ein seltsames Knirschen bei meinen ersten Schritten hinein  zwischen die Bäume lässt mich hinunterschauen. Der Eisregen. Der Boden  ist über und über bedeckt mit klaren, spitzen Eissplittern, die das  Sonnenlicht, das zwischen den Blättern der Bäume hindurchfällt, in alle  Richtungen brechen. Statt im einheitlichen Weiß oder Dunkelbraun  erstrahlt der Boden in allen Farben des Regenbogens. Wunderschön. So  etwas habe ich noch nie gesehen. Zwar ist die Luft nach einem kräftigen  Regenschauer sogar in Distrikt 8 für kurze Zeit etwas sauberer und man  kann sogar die Sonne scharfumrissen erkennen, nicht nur als blasser  Schemen, aber einen Regenbogen mit solch kräftigen Farben habe ich noch  nie gesehen. Fasziniert folge ich mit den Augen einem der  buntschimmernden Pfade tiefer in den Wald hinein. Grün und gelb und blau  und violett. Wie Diamanten glitzern die Eissplitter im Licht.

Manchmal,  wenn ich die ältere Frau, die neben uns wohnt, vor ihrer Hütte auf der  Treppe sitzen und mit ihrer kleinen selbstgeschnitzten Flöte habe  spielen sehen, habe ich mir gewünscht, dass mir der Unfall nicht das  Gehör, sondern das Augenlicht genommen hätte, damit ich ihrem Spiel  lauschen kann. Als kleines Kind habe ich manchmal mit den  Nachbarskindern barfuß dazu auf der dreckigen Straße getanzt, bis unsere  Eltern uns gerufen haben, weil wir im Haushalt helfen sollten oder,  weil es Essen gab.

Jetzt bin ich froh, dass ich nicht meiner  Sehkraft beraubt wurde. Um dieses zauberhafte Lichtspiel zu betrachten,  benötigt man keine Ohren zum Hören. Ich spüre, wie sich ein leichtes  Lächeln auf mein Gesicht stielt. Es fühlt sich seltsam an. Als wären  meine Muskeln verkrampft, weil es schon lange her ist, seit ich das  letzte Mal gelacht habe. Ich wünschte, Lacey wäre bei mir. Ihr würde es  gefallen. Die mehrfarbigen Stoffe haben ihr schon immer am besten  gefallen und deren Farben waren nie so kräftig und strahlend wie die des  gebrochenen Sonnenlichts.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt