der Fallschirm

179 8 0
                                    

Ich erwache, als die Sonne längst wieder aufgegangen ist. Doch ich öffne  die Augen nicht sofort. Lasse den Durst, den Hunger, die Kälte, die  Hitze, die Kopfschmerzen und das Feuer in meiner Kehle nicht sofort in  meinem Bewusstsein die Überhand gewinnen. Stattdessen bleibe ich noch  einen Moment in meiner Traumwelt.

Fröhlich lachend bin ich meiner  Schwester hinterher durch die Straßen getollt. Wir haben Fangen  gespielt. Sie war so viel schneller als ich. Ich hatte keine Chance,  aber das war mir egal. Es war schön. So unbeschwert. Den Lärm der  Fabriken konnte man fast ausblenden, wenn man sich daran gewöhnt hat.  Jetzt brauche ich ihn nicht mehr auszublenden. Schuld ist eine der  Fabriken. Der Unfall. Drei Jahre ist das jetzt her. Lea hat mich immer  beschützt. Auch danach. Bis sie 19 Jahre alt wurde. Jetzt bin ich hier.  Hier kann sie mich nicht beschützen. Nicht mehr. Ich muss mich selbst  beschützen.

Es kostet mich alle Kraft der Welt, die Augen zu  öffnen. Zurückzukehren in die Hölle, in welche das Kapitol mich gesteckt  hat. Ich weiß sofort, dass etwas nicht stimmt. Ich weiß jedoch nicht,  was nicht stimmt.

Ich sehe mich auf der Lichtung um. Ich stecke  immer noch in meinem Schlafsack. Kann mich kaum bewegen. Die Eissplitter  des Regens von gestern? Vorgestern? Letzter Woche? Die Eissplitter  bedenken den Boden. Sie leuchten in schillernden Farben des Regenbogens.  Ich schließe die Augen. Ich muss mich konzentrieren. Ich darf mich  nicht ablenken lassen. Nicht von der trügerischen Schönheit dieser  Eissplitter.

Der Junge aus Distrikt 3. Blutüberströmt. Der  Eissplitterregen. Ich habe ihn getötet. Er hat Sash getötet. Aber ich  habe ihn getötet. Ich bin eine Mörderin. Eine Mörderin. Eine Mörderin.  Ein Monster. Eine Gefahr. Für jeden. Für Willow. Für Ava.

Willow.  Ava. Ich reiße die Augen wieder auf. Jetzt weiß ich, was nicht stimmt.  Wo sind sie? Mein Blick fliegt hektisch über die Lichtung, doch ich kann  weder das Mädchen aus Distrikt 7 noch aus Distrikt 11 entdecken. Haben  sie mich endgültig verlassen? So wie ich es ihnen gesagt habe? Haben sie  mich alleine gelassen? Wie soll ich das schaffen? Ich bin alleine! Ich  bin krank! Ich werde sterben. Wenn nicht heute, dann morgen. Spätestens,  wenn die Karrieros mich finden. Ohne Ava und Willow überlebe ich keinen  weiteren Tag. Nicht ohne das Wasser. Ohne den Rucksack.

Der  Rucksack! Erst jetzt bemerke ich, dass er an meinen Körper gelehnt  dasteht. In Reichweite meiner Hände. Ich strecke gerade meine Hand aus,  da fällt mein Blick auf einen weiteren Gegenstand, der in unmittelbarer  Reichweite liegt. Ein Fallschirm! Der erste Fallschirm, den ich in  diesen Spielen zu Gesicht bekomme. Aber warum wir? Warum jetzt?
Ist  der Fallschirm der Grund, warum Willow und Ava gegangen sind? Aber warum  haben sie ihn nicht mitgenommen? Warum haben sie den Rucksack nicht  mitgenommen? Willows Bogen ist mit ihnen verschwunden. Aber der  Rucksack? Mit unseren Essensresten. Ich taste nach dem Reißverschluss.  Öffne ihn mit aller Kraft, die ich aufbringen kann. Nachher bin ich  vollkommen außer Atem. Ich taste hinein, fühle die verbliebenen  Energieriegel, Äpfel, Nüsse, Beeren, die Flasche.

Warum haben sie  alles hiergelassen, wenn sie mich verlassen? Damit sie kein allzu  schlechtes Gewissen zu haben brauchen? Sie haben mir eine Chance  gegeben, mich durchzuschlagen. Aber was bringen mir ein paar Äpfel,  Nüsse und eine Wasserflasche gegen die Karrieros?

Ich greife nach  der Büchse am Fallschirm. Ein Zettel fällt heraus, direkt auf meine  Brust. Ich lasse die kleine Metallbüchse, die an dem Schirm befestigt  ist, neben mir auf den Boden fallen. Sie rollt ein paar Meter über die  Eissplitter, bevor sie zum Liegen kommt. Ich nehme den Zettel und halte  ihn vor das Gesicht. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Ich  versuche, mich zu konzentrieren. Die Worte werden klarer. Doch ich  wünschte, ich könnte sie nicht lesen. Denn, was ich erfahre, ist viel  schlimmer als wenn Ava und Willow mich verlassen hätten. Ich hätte es  verdient. Das, was sie getan haben, was sie tun habe ich nicht verdient.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt