Ist das schon das Ende?

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Wir laufen immer weiter. Ohne dass etwas passiert. Alle paar Minuten.  Vielleicht auch alle paar Stunden nehme ich den Rucksack von meinem  Rücken und schlinge mir die Gurte von vorne über die Schultern. Darauf  bedacht, in dem pulvrigen Schnee nicht auszurutschen oder über tiefer  hängende Äste zu stolpern. Ich schaue nach der Flasche. Ob der Schnee  schon geschmolzen ist. Der Durst ist mittlerweile unerträglich. Doch der  Schnee ist noch zu fest. Meine Kehle ist staubtrocknen und brennt.  Meinen Verbündeten wird es nicht anders gehen. Aber es ist zu kalt. Und  es wird immer kälter. Die Sonne steigt höher. Und es wird immer kälter.  Es ist Mittag. Und es wird kälter.

Alle paar Meter bleibt Ava  erwartungsvoll vor einem der schneebedeckten Sträucher stehen. Nur um  enttäuscht mit der Hand durch die Zweige zu fahren und mit hängendem  Kopf weiter zu trotten. Ich brauche mich den Sträuchern nicht zu nähern,  um zu sehen, was sie so verzweifelt macht. Die Beeren sind alle  vertrocknet.

Was ist, wenn wir nirgends in der Arena Nahrung  finden? Keine Nüsse. Keine Beeren. Nicht einmal einem Tier, geschweige  denn ein paar Spuren sind wir bisher begegnet. Und das obwohl wir die  ganze Nacht im Wald verbracht haben. Was ist, wenn es zu kalt ist, als  dass irgendwelche Tiere überleben könnten? Und selbst wenn wir einem  Tier begegnen sollten. Wir haben nicht einmal eine Steinschleuder, um es  zu jagen. Außerdem denke ich nicht, dass ich es könnte. Jagen. Töten.  Nicht einmal Tiere. Aber hier gibt es sowieso keine Tiere. Nicht einmal  ein Eichhörnchen oder eine Ratte. Der Wald ist wie ausgestorben. Es  scheint, als seien wir allein hier. Aber das sind wir nicht. Gerade in  diesem Moment sind zig Kameras auf uns gerichtet, die unsere  verzweifelte, ziellose Wanderung live auf die Fernsehbildschirme in ganz  Panem übertragen. Dann sind da noch die anderen Tribute. Die Karrieros.  Die Jungen aus 3 und 7. Wir sind nicht allein. Auch wenn die Arena uns  das glauben lassen mag. Das ist gefährlich. Zu denken, wir seien allein.  In der Arena ist man nicht allein. Nie. Und wenn es zu ruhig ist,  kommen die Mutationen. Ich hoffe, wir haben noch Zeit.

Die  Erschütterung, die über den schneeweißen Waldboden in meine Fußsohlen  und von dort meinen gesamten Körper durchdringt, lässt mich erstarren  und aus meinen Gedanken aufschrecken. Vor mir ist Eve mitten in dem  Versuch, einen widerspenstigen, tiefhängenden Ast einer Tanne aus dem  Weg zu drücken, festgefroren. Ava neben mir. Ihr Gesicht kalkweiß.

Die  Kanone. Nun sind wir nur noch 16. Wie er oder sie wohl gestorben ist?  Durch die Karrieros? Oder die beiden aus 3 und 7? Durch das Wetter? Oder  bereits durch Mutationen? Irgendwo in einem der 12 Distrikte von Panem  sitzt jetzt eine weitere Familie wie paralysiert vor dem Fernseher. Eine  weitere Familie, die trauert. Um die Tochter oder den Sohn. Um die  Schwester oder den Bruder. Um die Enkelin oder den Enkel. Um die Nichte  oder den Neffen. Um eine gute Freundin oder einen guten Freund. Nun  endgültig in der Gewissheit, das Mädchen oder den Jungen nie wieder  lebendig zu sehen. Nie wieder mit ihm oder ihr reden zu können. Lachen  zu können. Aber vielleicht ist es besser so? Vielleicht ist es besser,  zu Beginn der Spiele zu sterben, als erst am Ende? Wenn die Hoffnung  bereits so groß geworden ist, dass man sich bereits ausmalt, wie das  Leben als Sieger und Siegerfamilie wohl aussehen mag. Wenn der Tribut in  seinen Distrikt zurückkehrt. Lebendig. Nicht in einer unpersönlichen  Holzkiste. Hoffnung ist ein gefährliches, trügerisches Gefühl. Es spielt  einem vor, das etwas eintreten könnte, was vollkommen unmöglich ist.  Doch was bleibt uns noch, wenn es keine Hoffnung mehr gibt? Nur noch die  Angst.
Ich spüre, wie mich jemand am Arm greift und diesen heftig  schüttelt. Erneut werde ich aus dem Gedankenkarussel gerissen. Es ist  Eve. Ihr Gesichtsausdruck ist besorgt. Doch nicht wegen mir, wie ich  bald feststellen muss. Ava ist neben mir zu Boden gesunken und zittert  unkontrolliert. Sie ist noch bleicher, als sie es eben beim Ertönen der  Kanone gewesen war.

In wenigen Schritten bin ich bei ihr und  lasse mich neben ihr auf den Boden fallen. Die Augen des Mädchens sind  panisch aufgerissen. Sie starren leer in die Ferne. Und doch ist Avas  Blick seltsam fokussiert. Sie scheint etwas zu sehen, das wir nicht  sehen können. Kurz sehe ich Eve an. Die 18-Jährige kniet neben mir,  wirkt jedoch vollkommen ratlos. Sie wird mir keine große Hilfe sein.
Ich  drücke der Älteren stumm den Rucksack in die Hand, um freier zu sein,  und nehme Ava in den Arm. Ich halte sie einfach nur fest. Wie schon  gestern Abend, als sie völlig aufgelöst vom Füllhorn zu mir gekommen  ist. Was ist dort geschehen? Was hat die Kleine innerlich so zerstört?  Ein Gefühl sagt mir, dass es nicht allein die Tatsache ist, dass sie  Kinder sterben gesehen und gehört hat. Sieben grauenvolle Morde. Aber  was ist schlimmer noch als das? Was raubt meiner kleinen Verbündeten den  Verstand? Wie soll ich sie beschützen, wenn der Knall der Kanonen sie  jedes Mal in diesen wahnhaften Zustand versetzt? Was kann ich tun, um  Ava zu helfen?

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt