Es ist nicht spannend!

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Ich realisiere erst, dass ich gefallen bin, als Eve mich besorgt  schüttelt. Ich habe Schwierigkeiten, meinen wirren Blick auf die Ältere  zu richten. Mir ist schwindelig wie mir noch nie schwindelig war. Durch  die Explosion in der Fabrik vor drei Jahren wurde auch mein  Gleichgewichtssinn beeinträchtigt, doch daran habe ich mich längst  gewöhnt. Nun schwankt und dreht sich alles um mich herum. Mir ist  schlecht. Ich würge und erbreche den Apfel und die Brote, die ich  gestern früh im Hovercraft gegessen habe. Mehr nicht. Aber mehr war auch  nicht in meinem Magen.

Plötzlich fühle ich eiskaltes Metall an  meinen Lippen. Dann: Wasser. Gierig nehme ich einen Schluck. Das kalte  Nass rinnt meine staubtrockene, vom Erbrechen brennende Kehle hinunter.  Ich nehme noch einen Schluck. Und noch einen. Noch nie in meinem Leben  habe ich etwas getrunken, das so gut schmeckt. Nie. Nicht einmal der  exotische Fruchtsaft, der uns jeden Morgen im Kapitol zum Frühstück  serviert wurde. Nach einem weiteren Schluck lassen die Übelkeit und auch  der Schwindel nach. Die Arena dreht sich langsamer, bis sie wieder  stehen bleibt.

Vor mir kniet Eve. Ihr Gesicht ist käseweiß. Ich  blicke zur Seite und sehe Ava, die mich mit angstvoll aufgerissenen  Augen anstarrt. Mein Blick fällt auf unsere Hände und mir wird bewusst,  dass ich die Hand der Kleinen beinahe zerquetsche, so fest wie ich sie  umklammere. Schnell lockere ich den Griff und Ava entzieht sich diesem.  Sie reibt ihre Hand und ich fühle mich schuldig.

„Tut mir leid",  murmele ich, doch Ava schüttelt den Kopf. Sie beugt sich vor und umarmt  mich. „Mir geht es gut", sage ich und löse mich aus der Umarmung. Ich  drücke meiner kleinen Verbündeten die kalte Metallflasche in die Hand.  Ava sieht zögernd Eve an, doch als diese nickt, setzt sie die Flasche an  den Mund und trinkt vorsichtig ein paar Schlucke, ungeachtet der  Tatsache, dass ich eben daraus getrunken habe, nachdem ich mich  erbrochen habe. Ava reicht die Flasche an die 18-Jährige weiter. Auch  Eve trinkt, füllt die Flasche wieder mit Schnee auf und steckt sie  wieder unter ihren Overall.

Eve öffnet den Rucksack und holt die  Packung Trockenobst hervor. Ich schüttele den Kopf. Ich finde es nicht  gut, jetzt schon unsere einzigen Nahrungsvorräte zu verbrauchen. Zwar  spüre ich jetzt, da der stärkste Durst beseitigt ist und da ich alles,  was ich im Magen hatte, erbrochen habe, den Hunger, aber er ist noch  nicht unerträglich. Ich weiß, wie man hungert.

Eve hält mir die  Tüte Obst auffordernd hin und ich schüttele ein weiteres Mal energisch  den Kopf. Sie nickt ebenso energisch. Schließlich gebe ich nach, greife  in die Tüte und nehme zwei Stücke. Die beiden anderen nehmen sich  ebenfalls etwas und Eve verstaut die Tüte wieder sicher im Rucksack. Auf  dem schneebedeckten, eiskalten Boden kauernd knabbern wir zaghaft an  unserer dürftigen Mahlzeit, während es über uns zu schneien anfängt.  Mittlerweile steht die Sonne tief und es wird immer noch kälter. Wollen  die Spielmacher uns alle erfrieren lassen?

Nein, das darf und  will ich nicht denken. Das würden sie nie tun. Es ist nicht spannend,  Kindern dabei zuzusehen, wie sie erfrieren. Es ist spannend, Kindern  dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig aufspießen oder erwürgen.

Nach  dem Obst ist der Hunger stärker als vorher. Es ist nicht spannend,  Kindern dabei zuzusehen, wie sie verhungern. Irgendwo muss es etwas  Essbares zu finden geben. Wenn wir nur lange genug suchen.

Eve  holt den Schlafsack, den wir zum leichteren Transport in den Rucksack  gestopft haben, hervor und macht mir damit ohne Worte verständlich, dass  sie der Meinung ist, dass wir hier unser Nachtlager aufschlagen  sollten. Vielleicht ist es gut so. Es dämmert und hat angefangen zu  schneien. Wir sind alle müde und erschöpft. Auch die Karrieros werden  jetzt zum Füllhorn zurückkehren. Hoffe ich. Und Mutationen werden sie  noch keine kreiert haben, immerhin war gestern erst das Blutbad am  Füllhorn und heute ist auch jemand gestorben.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt