Schwächen vs Stärken

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Ich blinzele mit den Augen und beobachte das Naturschauspiel. Ich frage  mich, wie viele Sonnenaufgänge ich noch werde sehen können, bevor...

Nein!  Wenn ich so denke, helfe ich weder mir noch irgendjemanden sonst. Wenn  ich gewinnen möchte und sei es nur, weil ich Lacey oder meinem Vater  noch etwas schuldig bin, dann darf ich nicht so pessimistisch sein, egal  wie aussichtslos meine Lage ist.

Ich stehe so schnell auf, dass  mir augenblicklich schummrig vor den Augen wird und ich mich schnell auf  das Bett zurücksetzen muss. Was mir gerade noch fehlt ist, dass ich  zusammenbreche, dann wird mich Hestia heute ganz sicher nicht zum  Training lassen und ich brauche das Training. Sei es nur, um  herauszufinden, worin die Stärken der Karrieros liegen und ob sie auch  irgendwelche Schwächen haben, was ich ehrlich gesagt bezweifle. Sie  haben allerspätestens mit 12 Jahren angefangen, in der Akademie zu  trainieren, einige von ihnen sicherlich schon früher. Dass das  vorausgehende Training eigentlich verboten ist, interessiert in den  vorderen Distrikten niemand und das Kapitol macht auch nichts dagegen.  Im Gegenteil, die Kapitolbewohner freuen sich jedes Mal, wenn die  Hungerspiele ihnen viel Blutvergießen und viele Kämpfe zu bieten haben.

Ich  kämpfe gegen die Bilder, die mir in den Kopf schießen, an, da mir beim  Gedanken an frisches Blut übel wird. Gegen kleine Wunden habe ich  nichts, aber das viele Blut, das man bei der Übertragung der  Hungerspiele im Fernsehen sehen kann, hat schon öfters dafür gesorgt,  dass mein Magen rebelliert hat. Mir wird bewusst, dass die Liste meiner  Schwächen immer länger wird. Angefangen damit, dass ich seit dreieinhalb  Jahren gehörlos bin. Ich bin schwach und abgemagert. Habe nie  trainiert, wenn ich ein Messer in den Händen gehalten habe, dann um  Gemüse zu schneiden oder die Kräuter, die mein Vater und Lea im Wald  gesammelt haben. Ich werde allein sein, da sich niemand mit mir  verbünden wird, abgesehen davon dass ich auch mit niemanden Kontakt  aufnehmen kann, weil ich im Training nicht reden soll. Ich habe  Höhenangst, wenn ich den Boden unter den Füßen verliere und weiß, dass  ich Meter tief fallen könnte. Ich habe Angst vor der absoluten  Dunkelheit, wenn ich keinen Anhaltspunkt habe, wo ich mich befinde, ob  ich noch lebe oder bereits tot bin. Ich kann keine größeren Mengen Blut  sehen.

Die Liste geht vermutlich noch endlos weiter und meine  wenigen sogenannten Stärken, wenn es denn welche sind, erscheinen mir  nichtig dagegen. Ich weiß, wie man hungert und tagelang ohne Essen  auskommt. Vielleicht erkenne ich in der Arena einige der Nüssen, Beeren  und Kräuter wieder, die mein Vater und meine große Schwester im Wald  gesammelt haben. Ich habe vielleicht die besttrainierten Augen aller  Tribute. Ich kann sprechen, obwohl ich nicht hören kann, und damit – so  behauptet jedenfalls Yarnn – in der Arena die anderen Tribute  irritieren.

Ich zucke zusammen, als sich meine Zimmertür einige  Zentimeter öffnet, bevor sie sich wieder schließt. Ich bin schon wieder  zu spät. Vielleicht habe ich ja Glück und Hestia reißt mir den Kopf ab,  bevor ich einen Fuß in die Arena gesetzt habe.

Ich stehe auf,  diesmal langsamer als beim ersten Mal und beobachte durch das Fenster  die Sonne, die mittlerweile ganz aufgegangen ist und das Sonnenlicht  bringt die grünen Wände beinahe zum Glänzen. So viel Schönheit – und  dass obwohl 23 von uns in zwei Wochen vermutlich schon tot sind.

Ich  gehe zum Schrank, um mir ein Outfit zusammenzustellen, da fällt mir  auf, dass auf einem pinken Stuhl neben dem Schrank bereits etwas für  mich bereit gelegt worden ist. Der Overall ist für das Kapitol  ungewöhnlich schlicht und ganz in Blau gehalten, wie das Kleid bei der  Parade. Als ich den Stoff berühre, spüre ich, wie weich und dennoch  stabil er sich anfühlt. Woher bekommen die Kapitolbewohner solche  Stoffe, ich kann mir nicht vorstellen, dass daheim in 8 so etwas  Wundervolles produziert wird. Wenn dem so wäre, müssten die  Fabrikarbeiter doch reicher sein, oder nicht? Schließlich stellen sie  die Kleidung her und unser Distrikt verkauft sie dann auch in die  anderen Distrikte und ins Kapitol. All die Stoffe, selbst das schlichte  gelbe Kleid, das ich momentan trage, müssten ein Vermögen wert sein.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt