Schokoladenkuchen

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Ich setze mich neben Sash, während Yarnn gegenüber von mir neben Hestia  Platz nimmt. Skeptisch betrachte ich die vielen Platten mit Pralinen und  kleinen Küchlein in allen Farben des Regenbogens. Ob man das wirklich  essen kann? Wenn ich Hestia vertrauen kann, offenbar schon. Die  Betreuerin hat sich gerade von einem der Tabletts ein blassblaues  Küchlein genommen und beißt genüsslich hinein. Die Füllung hat einen  gelblichen Farbton. Mir wird übel. Wie kann man so etwas essen?

Nach  längerem Zögern greife ich schließlich nach einem Brötchen, die sehen  wenigstens essbar aus und wenn ich ehrlich bin, bin ich noch nie in den  Genuss eines echten Brötchens gekommen. Ich werfe Sash einen Blick zu.  Mein Mittribut hat immer noch nichts angelangt und lässt seinen Blick  argwöhnisch über die vielen Platten schweifen. Yarnn hat sich bereits  ein kleines Küchlein genommen und hineingebissen, es scheint ihm zu  schmecken.

Ich breche von meinem duftenden Brötchen ein Stück  ab, als der erste Gang serviert wird. Es ist eine Gemüsesuppe. Ich bin  froh, dass sie sich im Kapitol offenbar nicht nur von Pralinen und  anderen Süßigkeiten ernähren. Die Suppe schmeckt köstlich. So etwas habe  ich noch nie in meinem Leben gegessen. Nie. Das meiste Gemüse erkenne  ich nicht, bei uns zuhause gab es manchmal Kartoffeln oder Möhren, mehr  nicht.

Als Nächstes bekommen wir einem Schweinebraten mit Reis  und Erbsen-Sahne-Soße. Bei uns zuhause gibt es sehr, sehr selten  Fleisch. Und wenn, dann nicht in dieser großen Menge. Von unserem  Abendessen könnte man eine Familie aus dem Saum über eine Woche lang  ernähren. Kurzzeitig packt mich das schlechte Gewissen, aber ich  verdränge es. In weniger als einer Woche werde ich in der Arena sein,  wenn ich jetzt die Gelegenheit habe, mich vollzuessen, sollte ich sie  nutzen. Wer weiß, wie leicht ich in der Arena an Nahrung kommen werde.  Besser, wenn ich zugreife, solange ich noch kann. Bevor der Nachtisch  aufgetischt wird, habe ich bereits das Gefühl, gleich platzen zu müssen.  So viel habe ich noch nie in meinem ganzen Leben gegessen. Vielleicht  hätte ich doch etwas vorsichtiger sein sollen. Aber es hat so wahnsinnig  gut geschmeckt. Von dem Nachtisch möchte ich auch noch probieren und  wenn es nur ein kleines bisschen ist.

Als jedoch der Nachtisch  aufgetragen wird, ein richtiger Schokoladenkuchen – so, wie die im  Schaufenster der Bäckerei, die ich mir manchmal sehnsuchtsvoll mit Lacey  angeschaut habe – rühre ich ihn nicht an. Er erinnert mich  augenblicklich an zuhause.

Leas Geburtstagskuchen. Das Stück, das  ich für heute Abend aufgehoben habe – wenn ich wieder ein Jahr  verschont geblieben wäre. Aber das bin ich nicht. Stattdessen sitze ich  hier im Zug auf dem Weg ins Kapitol. Auf den Weg in meinen Untergang.  Wie es meiner Familie momentan wohl geht? Lea, Mum, Dad? Glaubt er  wahrhaftig daran, dass ich eine Chance habe? Ich, seine gehörlose  sechzehnjährige Tochter? Oder hat er bei der Verabschiedung nur so daher  geredet, um mir Mut zu machen? Aber er hat sosehr darauf beharrt, dass  ich ihm verspreche, dass ich versuchen werde zu gewinnen. Wenn er nun  wirklich daran glaubt, dass ich gewinnen könnte? So wie Yarnn. Er weiß,  dass ich mein Gehör verloren habe, aber er hat mich immer noch nicht  ganz aufgegeben. Er meint, ich könne die Tatsache, dass ich trotz meiner  Gehörlosigkeit sprechen kann, als Waffe gegen die anderen Tribute  einsetzen. Vielleicht würde das wirklich funktionieren, vielleicht habe  ich wirklich eine Chance? Ich darf mich noch nicht aufgeben, ich sollte  kämpfen. Ich habe es meinem Vater versprochen. Ich möchte sie wieder  sehen. Dad, Mum, Lea, Lacey... Ich muss kämpfen. Für sie!

Ich zucke  zusammen, als mich eine Hand an der Schulter berührt. Es ist Sash. Ich  bemerke, dass die anderen bereits mit dem Essen fertig sind und der  Kuchen sowie unsere Teller abgeräumt wurden. Sash hat etwas auf seine  Serviette geschrieben: „Hestia meint, wir sollen in unsere Abteile  gehen. Morgen ist ein sehr wichtiger Tag, sagt sie."

Ich nicke  dankbar und gemeinsam verlassen wir das Gemeinschaftsabteil, nachdem ich  Yarnn, der gerade mit Hestia zu diskutieren scheint, kurz zugenickt  habe. Vor der Tür zu Sashs Abteil bleiben wir stehen und ich möchte ihm  eine Gute Nacht wünschen, als er meine Hand ergreift und sie kurz  drückt. Ich verstehe nicht. Ohne ein weiteres Wort, das ich sowieso  nicht hören könnte, oder eine Geste, dreht er sich um und geht durch  seine Tür, die ohne eine Berührung aufgleitet und hinter ihm wieder  zugeht, sodass ich nun alleine da stehe.

Ich gehe die paar  Schritte bis zu meiner Abteiltür und gehe hinein. Sobald die Tür sich  hinter mir schließt, streife ich die Schuhe ab, um den weichen Boden  unter den Füßen zu spüren. Mich überkommt wieder eine starke Müdigkeit -  die paar Minuten Schlaf vorhin haben offenbar nicht ausgereicht.  Trotzdem habe ich Angst, mich in das große, weiche Bett zu legen. Ich  weiß nicht warum, aber ich habe Angst, in den weichen Kissen zu  versinken. Nochmals auf dem Boden zu schlafen ist aber sicherlich keine  allzu gute Idee.

Kurzerhand beschließe ich, mich vorher kurz im  Bad umzuziehen. Ich gehe zu dem Schrank, der neben dem Bett steht  hinüber, um mir etwas Passendes für die Nacht herauszusuchen. Als ich  die Schranktür öffne, werde ich beinahe von der Fülle an Kleidern  erschlagen. Zuhause in Distrikt 8 habe ich gerade einmal zwei Kleider,  das Erntekleid, das ich jetzt trage und ein weiteres, sehr schlichtes  Kleid. Dieser Schrank ist vollgestopft mit Kleidern in allen möglichen  Farbtönen, Röcken, Hosen, Oberteile. Es sind viele grelle Farben dabei  und mir tun sofort wieder die Augen weh. Schnell entscheide ich mich für  ein schlichtes, graues T-Shirt und eine Jogginghose im selben Farbton.

Ich  begebe mich ins Bad. Ich bleibe mit großen Augen in der Tür stehen. Das  Bad ist riesig. Es befindet sich ein Waschbecken mit einem Spiegel,  eine Toilette, eine Dusche und eine riesige Badewanne darin. Die Fliesen  sind, wie auch mein Zimmer, schwarz und weiß gehalten. Ich gehe zum  Waschbecken hinüber und öffne den Hahn, um mir das Gesicht zu waschen.  Das Wasser ist sogleich warm. Wenn wir zuhause warmes Wasser haben  wollen, müssen wir es auf dem Herd warm machen. Nicht einmal fließendes  Wasser haben wir, außer am Tag der Ernte. Und hier muss ich lediglich  den Hahn verstellen, um das Wasser zu temperieren. Wenn die Leute des  Kapitols bei ihrem Luxus nur geringe Einbüßen machen würden, hätten wir  in den Distrikten ein viel leichteres Leben.

Ich schlüpfe in das  bequeme T-Shirt und die Hose und verlasse das Bad. Barfuß tapse ich  hinüber zu meinem Bett. Ich hebe die dicke Bettdecke, die trotz ihrer  Masse ungewöhnlich leicht ist, und krieche anschließend darunter. Das  Bett ist sehr weich, allerdings nicht so, wie ich befürchtet habe. Ich  ertrinke nicht in den sauberen weißen Laken. Stattdessen fühlt es sich  so  weich an, dass ich das Gefühl habe, auf eine Wolke zu liegen. Aber  natürlich kann man nicht auf einer Wolke liegen, man würde einfach  hindurch fallen.  Ich mache das Licht aus und schließe die Augen. Bald  bin ich in einem traumlosen Schlaf gesunken.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt