Distrikt 4

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Die  Kanone war nah, viel zu nah. So nah, dass ich denke, dass es Ava ist,  der sie gegolten hat. Oder mir. Doch ich lebe noch. Und Ava...ich starre  das kleinere Mädchen an, doch es scheint ebenso lebendig wie ich zu  sein. Ich sehe nicht, wie seine Beine erneut unter ihm zusammenbrechen.  Ich sehe nur dieselbe Angst, die auch ich verspüre, in seinen Augen  glitzern.

Mein erster Reflex ist es, zu fliehen in die Richtung  entgegengesetzt der, aus welcher ich die Erschütterung durch den Boden  gespürt haben. Ava jedoch hält mich am Arm zurück. Ich versuche, mich  loszureißen um zu rennen, wende mich aber gleichzeitig der Jüngeren zu.  Ihre Augen sind aufgerissen vor Angst, doch sie schüttelt bestimmt den  Kopf. Deutet mit dem Zeigefinger der anderen Hand zunächst auf den  Boden, der immer noch mit Eissplittern übersät ist und hält den Finger  dann vor ihren geschlossenen Mund, schüttelt erneut den Kopf. Ich  verstehe. Das Knirschen unter unseren Füßen, wenn wir vor was auch immer  davonlaufen, würde uns augenblicklich verraten. Aber was sollen wir  machen? Wir können nicht hierbleiben. Wenn es die Karrieros sind. Wenn  sie jemanden getötet haben. Ganz in unserer Nähe. Wenn sie nun  beschließen, in unsere Richtung zu kommen.

Nein, das kann nicht  sein. Ich kann es nicht hören. Aber Ava hätte früher reagiert. Die  Karrieros töten niemanden, ohne ihn leiden zu lassen. Ava hätte etwas  gehört. Also nicht die Karrieros. Eine Mutation? Ich weiß nicht, was  gefährlicher ist. Ich weiß nur, dass wir hier nicht sein sollten. Wir  sollten fliehen. Das Weite suchen. So lange wir noch können. Bevor es zu  spät ist.

Ich wende mich erneut um zum Gehen, diesmal darauf  bedacht, mich langsam zu bewegen. Die Füße ganz leicht auf den Boden  setzen, um keine Geräusche zu erzeugen. Wenn wir uns erst einmal weit  genug zwischen die Bäume zurückgezogen haben, kann uns niemand mehr  sehen. Es dämmert bereits. Die Nacht bricht herein.

Ava hat mich  losgelassen. Ich setze ganz langsam, ganz vorsichtig, einen Fuß vor den  anderen. Beinahe so langsam und vorsichtig, dass ich das Gleichgewicht  verliere. Ich bin bereits ein paar Meter gegangen, als mir bewusst wird,  dass meine Verbündete mir nicht folgt. Ich bleibe wie angewurzelt  stehen. Haben sie sie schon entdeckt? Ist sie bereits tot? Nein, dann  hätte ich die Kanone gespürt. Und ich, ich wäre dann auch bereits tot.  Eine Mutation wartet nicht, sie greift an. Die Karrieros ebenso.

Also  drehe ich mich um und hätte vor Entsetzen fast aufgeschrien, doch  mittlerweile habe ich Übung darin, meine Hand reflexartig in den Mund zu  stecken, um den Schrei, der alles und jeden angelockt hätte, im Keim zu  ersticken. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen starre ich Ava an. Sie  ist mir nicht gefolgt. Sie ist auch nicht dort stehen geblieben, wo ich  sie zurückgelassen habe. Das kleine Mädchen ist weiter vorgedrungen in  die Richtung, aus welcher der Kanonenschlag gekommen ist. Ich kann mich  gerade noch davon abhalten, sie zu warnen. Ihr zuzurufen, dass sie  zurückkommen soll. Dass wir fliehen müssen. Dass sie der Gefahr direkt  in die Arme oder auch in die Pfoten läuft. Doch ich rufe nichts. Zum  Glück. Es wäre unser Ende.

Stattdessen atme ich kurz durch, in  dem verzweifelten Versuch, mich wenigstens etwas zu beruhigen.  Schließlich schleiche ich zurück, bewege mich zurück auf Ava zu. Ich  muss sie zurückhalten. Festhalten. Irgendwie. Bevor sie in ihren eigenen  Tod rennt. Das ist der einzige Grund, warum ich noch lebe. Weil jemand  meine Verbündete beschützen muss. Sie muss gewinnen. Nur sie.

Blut.  So viel Blut. Blut auf ihrem Overall. Ein Messer in ihrer Brust. Ava.  Tot. Blutüberströmt. Wie der Junge aus ihrem Distrikt. Der Junge aus  Distrikt 3. Ich habe sie getötet. Überall Blut. Ihr Blut auf meinem  Overall. Mein Messer rot von getrockneten Blut. Ich. Eine Mörderin. Eine  Mörderin des Kapitols. Eine Mutation. Ein Monster. Blut. Überall Blut.

Ich  halte meinen Kopf schraubstockartig in meinen Händen. Schließe die  Augen und schüttele ihn. Ich. Darf. Nicht. Verrückt. Werden. Ich muss  klar bleiben. Ich muss. Ich muss. Ich muss. Ava. Sie braucht mich.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt