Die Kanone war nah, viel zu nah. So nah, dass ich denke, dass es Ava ist, der sie gegolten hat. Oder mir. Doch ich lebe noch. Und Ava...ich starre das kleinere Mädchen an, doch es scheint ebenso lebendig wie ich zu sein. Ich sehe nicht, wie seine Beine erneut unter ihm zusammenbrechen. Ich sehe nur dieselbe Angst, die auch ich verspüre, in seinen Augen glitzern.Mein erster Reflex ist es, zu fliehen in die Richtung entgegengesetzt der, aus welcher ich die Erschütterung durch den Boden gespürt haben. Ava jedoch hält mich am Arm zurück. Ich versuche, mich loszureißen um zu rennen, wende mich aber gleichzeitig der Jüngeren zu. Ihre Augen sind aufgerissen vor Angst, doch sie schüttelt bestimmt den Kopf. Deutet mit dem Zeigefinger der anderen Hand zunächst auf den Boden, der immer noch mit Eissplittern übersät ist und hält den Finger dann vor ihren geschlossenen Mund, schüttelt erneut den Kopf. Ich verstehe. Das Knirschen unter unseren Füßen, wenn wir vor was auch immer davonlaufen, würde uns augenblicklich verraten. Aber was sollen wir machen? Wir können nicht hierbleiben. Wenn es die Karrieros sind. Wenn sie jemanden getötet haben. Ganz in unserer Nähe. Wenn sie nun beschließen, in unsere Richtung zu kommen.
Nein, das kann nicht sein. Ich kann es nicht hören. Aber Ava hätte früher reagiert. Die Karrieros töten niemanden, ohne ihn leiden zu lassen. Ava hätte etwas gehört. Also nicht die Karrieros. Eine Mutation? Ich weiß nicht, was gefährlicher ist. Ich weiß nur, dass wir hier nicht sein sollten. Wir sollten fliehen. Das Weite suchen. So lange wir noch können. Bevor es zu spät ist.
Ich wende mich erneut um zum Gehen, diesmal darauf bedacht, mich langsam zu bewegen. Die Füße ganz leicht auf den Boden setzen, um keine Geräusche zu erzeugen. Wenn wir uns erst einmal weit genug zwischen die Bäume zurückgezogen haben, kann uns niemand mehr sehen. Es dämmert bereits. Die Nacht bricht herein.
Ava hat mich losgelassen. Ich setze ganz langsam, ganz vorsichtig, einen Fuß vor den anderen. Beinahe so langsam und vorsichtig, dass ich das Gleichgewicht verliere. Ich bin bereits ein paar Meter gegangen, als mir bewusst wird, dass meine Verbündete mir nicht folgt. Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Haben sie sie schon entdeckt? Ist sie bereits tot? Nein, dann hätte ich die Kanone gespürt. Und ich, ich wäre dann auch bereits tot. Eine Mutation wartet nicht, sie greift an. Die Karrieros ebenso.
Also drehe ich mich um und hätte vor Entsetzen fast aufgeschrien, doch mittlerweile habe ich Übung darin, meine Hand reflexartig in den Mund zu stecken, um den Schrei, der alles und jeden angelockt hätte, im Keim zu ersticken. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen starre ich Ava an. Sie ist mir nicht gefolgt. Sie ist auch nicht dort stehen geblieben, wo ich sie zurückgelassen habe. Das kleine Mädchen ist weiter vorgedrungen in die Richtung, aus welcher der Kanonenschlag gekommen ist. Ich kann mich gerade noch davon abhalten, sie zu warnen. Ihr zuzurufen, dass sie zurückkommen soll. Dass wir fliehen müssen. Dass sie der Gefahr direkt in die Arme oder auch in die Pfoten läuft. Doch ich rufe nichts. Zum Glück. Es wäre unser Ende.
Stattdessen atme ich kurz durch, in dem verzweifelten Versuch, mich wenigstens etwas zu beruhigen. Schließlich schleiche ich zurück, bewege mich zurück auf Ava zu. Ich muss sie zurückhalten. Festhalten. Irgendwie. Bevor sie in ihren eigenen Tod rennt. Das ist der einzige Grund, warum ich noch lebe. Weil jemand meine Verbündete beschützen muss. Sie muss gewinnen. Nur sie.
Blut. So viel Blut. Blut auf ihrem Overall. Ein Messer in ihrer Brust. Ava. Tot. Blutüberströmt. Wie der Junge aus ihrem Distrikt. Der Junge aus Distrikt 3. Ich habe sie getötet. Überall Blut. Ihr Blut auf meinem Overall. Mein Messer rot von getrockneten Blut. Ich. Eine Mörderin. Eine Mörderin des Kapitols. Eine Mutation. Ein Monster. Blut. Überall Blut.
Ich halte meinen Kopf schraubstockartig in meinen Händen. Schließe die Augen und schüttele ihn. Ich. Darf. Nicht. Verrückt. Werden. Ich muss klar bleiben. Ich muss. Ich muss. Ich muss. Ava. Sie braucht mich.
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Die 101. Hungerspiele★
FanfictionCorina Henson ist 16 Jahre alt und kommt aus Distrikt 8. Vor knapp 3 1/2 Jahren verlor sie bei einem Arbeitsunfall ihr Gehör. Als sie für die diesjährigen Hungerspielen ausgelost wird, scheint alles verloren. Doch dann beschließt Corina zu kämpfen...