Abschied für immer

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Als wir das Justizgebäude betreten, kann ich nicht anders, als zu  staunen, allein der Eingangsbereich ist mehrmals so groß wie unsere  Hütte am Rand von Distrikt 8 und die Wände sind mit einer Tapete  verziert, während die unsrigen trist und grau sind.

Ich werde von  meinem Mittribut, dessen Namen ich noch nicht kenne, da ich ihn nicht  gehört habe, getrennt und einer der Friedenswächter hält mir die Tür zu  einem Raum auf. Als er sie hinter mir schließt, sehe ich mich um. Mit  der Ausstattung hier könnte meine Familie einen Monat überleben,  mindestens. Und dies hier ist noch nicht einmal das Kapitol, sondern  immer noch Distrikt 8. Ich lasse mich auf ein blaues Plüschsofa fallen  und habe augenblicklich das Gefühl, als würde ich ertrinken, so weich  wie es ist.

Als ich mich gesetzt habe, lasse ich meinen Tränen  freien Lauf. Hier sieht mich niemand; zumindest bin ich mir sicher noch  nie im Fernsehen gesehen zu haben, wie die Verabschiedung der Tribute  von ihren Familien abläuft. Nun, die Verzweiflung und Trauer, die bei  diesem Anlass immer herrscht, passt nicht ganz in das Konzept der  herrlichen, glorreichen Hungerspiele, wie das Kapitol sie gerne zeigt.  Also kann ich weinen, ohne dass jemand davon erfahren wird.

Warum?  Warum wurde ich ausgelost?! Warum ich? Warum keine 18-Jährige, ein  anderes Mädchen in meinem Alter? Selbst eine 12-Jährige hätte bessere  Chancen als ich. Ich bin gehörlos. Wie soll ich es merken, wenn ein  Tribut sich in der Arena von hinten an mich anschleicht und kaltblütig  ermordet? Wie soll ich bei den Stimmen anderer in meiner Nähe die Flucht  ergreifen, wenn ich die Stimmen nicht hören kann? Wenn ich doch  wenigstens trainiert hätte. Das Einzige, wozu ich im Stande bin, ist  Karotten und Kartoffeln mit einem Küchenmesser schälen, aber damit kann  ich mich nicht verteidigen!

Als ich eine Bewegung im Augenwinkel wahrnehme, zucke ich erschrocken zusammen. Bin ich etwa schon in der Arena?

Ich  sehe auf und erblicke meine Eltern und meine Schwester, die gerade  durch die Tür in den Raum treten. Meine Mutter hält den Kopf gesenkt und  ihr laufen Tränen über das Gesicht. Ihr Anblick ist furchtbar, sie hat  mich schon aufgegeben. Aber damit hat sie ja Recht. Lea sieht sich  unbehaglich in dem Raum um, auch sie scheint geweint zu haben, dem  verschmierten Gesicht nach zu urteilen. Mein Vater betrachtet  missbilligend das vollmöblierte und für unsere Verhältnisse luxuriöse  Zimmer, bevor er mich auf dem Sofa entdeckt, sich auf mich zu bewegt und  mich hinauf zu sich in die Arme zieht.

Er hält mich einen Moment  fest, bevor er mich auf Armlänge von sich weg hält und mir tief in die  Augen schaut. Als er seine Hände von meinen Schultern löst, um zu  sprechen, schwanke ich kurz, da ich offenbar nicht aus eigener Kraft  gestanden bin.

Du kannst es schaffen!,  behauptet mein Vater und ich schüttele nur den Kopf, sage aber nichts,  weder mit dem Mund noch mit den Händen. Was gibt es auch zu sagen? Jeder  in Distrikt 8 weiß, dass die Ziehung für die Hungerspiele das  Todesurteil ist.

Du bist klug!,  fährt mein Vater unbeirrt fort. Ich bin klug, aber was hilft das schon?  Wer hat einen anderen Tribut getötet, indem er ihm Matheformeln an den  Kopf geworfen hat? Mein Vater sieht mir meine Gedanken an, auch wenn ich  sie nicht ausspreche, Du kannst überleben! Du bist nicht so verwöhnt wie die Karrieros aus 1, 2 und 4. Wenn du dich versteckst...

Nun  kann ich mich doch nicht mehr zurückhalten und als ich spreche, weiß  ich, dass meine Stimme sicherlich leicht verzerrt klingt, obwohl ich sie  längst nicht mehr hören kann. Aber ich weiß, dass mein Vater mich eher  versteht, wenn ich die Worte laut sage und nicht mit den Händen  gestikuliere.

„Papa!", sage ich und die Tränen, die kurzzeitig  versiegt sind, treten wieder in meine Augen, „Mach dir keine falschen  Hoffnungen! Sie können sich einfach anschleichen und ich bemerke  nichts..." Nun ist es mein Vater, der den Kopf schüttelt, aber seine Hände  werden verzweifelter, hektischer: Bitte, sag  mir, dass du es versuchst! Wenn ich meine, dass du eine Chance hast,  dann hast du eine! Du musst daran glauben! Versuche es, bitte!

Plötzlich  drehen sich meine Eltern und Lea zur Tür um. Jemand hat sie  aufgerissen, aber ich habe es natürlich nicht gehört. Lea sagt  irgendetwas und stürzt auf mich zu, um mich zu umarmen. Lea, meine  Schwester, ich werde sie nie wieder sehen! Als Nächstes ist meine Mutter  an der Reihe. Sie weint immer noch, sie glaubt auch nicht daran, was  mein Vater sagt.

Meine Mutter und meine Schwester sind schon aus  der Tür verschwunden, doch mein Vater sieht mich immer noch  durchdringlich an, er achtet nicht auf den Friedenswächter, der hinter  ihm wild gestikulierend irgendetwas von sich gibt.

„Ich versuch  es", sage ich und trotz der Tatsache, dass ich meine eigenen Worte nicht  hören kann, weiß ich, dass meinem Mund nur ein kaum hörbares Flüstern  entweicht. Das Gesicht meines Vaters entspannt sich etwas, ich wusste,  dass er das hören will. Er hat nie gewollt, dass eines seiner Mädchen in  die Hungerspiele muss, aber noch unerträglicher wäre es für ihn, wenn  ich mich selbst aufgeben würde.

Nachdem auch er verschwindet,  taucht Lacey auf. Ich falle ihr in die Arme und wir heulen um die Wette.  Ich mag meinem Vater versprochen haben, dass ich versuchen würde zu  gewinnen, aber ich traue meinen eigenen Worten nicht. Wenn ich es nicht  gesagt hätte, wäre der Friedenswächter möglicherweise handgreiflich  geworden, und ich wollte meinen Vater doch nur schützen.
Lacey glaubt  auch nicht daran, dass ich zurückkehre, das spüre ich. Eigentlich  sollte ich entsetzt darüber sein, aber es macht mir nichts aus. Dies ist  ein endgültiger Abschied, wie auch der Abschied von meiner Familie. Es  bringt nichts, uns irgendetwas vorzumachen. Die wenigen Minuten, die  meiner Freundin und mir dafür bleiben, sind viel zu schnell vorbei.

Als  der Friedenswächter kommt, wischen wir uns beiden die Tränen aus dem  Gesicht und Lacey hält mir ein Halstuch hin. Ich erkenne es sofort.  Nachdem ich mein Gehör verloren habe, haben wir ein Spiel entwickelt,  Lacey und ich. Ich sehe was, was du nicht hörst. Sie hat sich mit ihrem  Halstuch immer die Augen verbunden und dann habe ich ihr beschrieben,  was ich sehen kann. Sie muss anhand der Geräusche, die sie hört, den  Gegenstand erkennen, den ich ihr beschreibe. Andersherum ist es genauso.  Sie schreibt mir auf, was sie hört und ich muss dann erkennen, was sie  beschreibt.

Ich sehe meine Freundin fragend an. Und sie sagt etwas in Gebärdensprache: Du darfst einen Gegenstand aus deinem Distrikt mitnehmen und mit wem soll ich unser Spiel spielen, wenn du... Ihre Hände erstarren und sie sieht zu Boden. Mit gesenktem Blick geht sie in Richtung Tür.

„Vergiss mich nicht!", rufe ich, aber vielleicht ist es auch nur ein Flüstern. Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss.

Ich bin allein.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt