Lächen und winken die zweite

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Ich  folge meiner Stylistin in eine riesige Halle, in der mehrere  Pferdewägen bereit stehen. Der Großteil der anderen Tribute hat sich  bereits hier eingefunden und einige stehen sogar schon auf den Plätzen  in ihren Wägen. Während ich hinter meiner Stylistin zum Wagen von  Distrikt 8 laufe, beobachte ich die anderen Tribute.

Die beiden  aus 1 müssen auch gerade erst angekommen sein. Ihre Kostüme sind  atemberaubend schön. Das Mädchen steckt in einem cremefarbenen Kleid,  welches mit Edelsteinen besetzt ist und in ihr ohnehin schon goldblondes  Haar sind gold- und silberfarbene Strähnen sowie weitere Edelsteine  gewickelt. Der Junge trägt einen ebenfalls cremefarbenen Anzug und seine  Haut ist mit goldener Farbe angesprüht. Distrikt 1 – Luxuswaren. Allein  von diesen Kostümen könnte man einige Familien aus dem Saum  sicherlich  mehrere Monate durch bringen. Bei diesem Gedanken sehe ich  unwillkürlich an mir selbst herab. Mein Kleid ist zwar nicht so luxuriös  wie die Kostüme der beiden Einser, aber bestimmt ebenso unbezahlbar.

Als  der Junge mich entdeckt, zeigt sich in seinem Gesicht ein Ausdruck des  Erkennens und er schneidet eine fiese Grimasse und macht mit seiner Hand  eine unmissverständliche Geste, indem er sie waagrecht über seinen Hals  führt. Ich würge und bemühe mich, schnell wieder zu meiner Stylistin  aufzuschließen. Dabei bin ich so hektisch, dass ich beinahe stolpere.  Ich fange mich gerade noch und haste anschließend mit gesenktem Kopf  hinter der Frau aus dem Kapitol her.

Ich habe schon jetzt  fürchterliche Angst. Aus welchem Grund hat der Junge aus 1 es so auf  mich abgesehen? Er wird doch nicht ernsthaft denken, ich könne in der  Arena eine Bedrohung für ihn darstellen, oder? Ich, ein abgemagertes  16-Jähriges Mädchen aus Distrikt 8, das nicht einmal weiß, wie man eine  Waffe halten soll. Warum also ist er so auf mich fixiert? Weil ich ihn  bei unserer Ankunft im Kapitol angestarrt habe? Schaut er etwa jeden  Außendistriktler so an? Eins ist jedenfalls sicher, vor ihm muss ich  mich in der Arena besonders in Acht nehmen.

Als meine Stylistin  vor mir unvermittelt zum Stehen kommt, hebe ich vorsichtig den Kopf. Wir  sind bei unserem Wagen angekommen. Yarnn, Hestia, Sash und sein Stylist  warten bereits. Yarnn scheint Sash gerade irgendetwas zu erklären. Der  Vierzehnjährige sieht in seinem Kostüm nicht sonderlich glücklich aus  und ich kann es ihm ehrlich gesagt nicht verübeln.

Sein Kostüm  ist ebenso wie meines eine schneiderische Meisterleistung, keine Frage,  aber es ist nicht für einen Jungen konzipiert. Seine Hose ist in  Ordnung, sie ist aus einem fließenden, sehr dunkelblauen Stoff und am  Saum etwas weiter ausgestellt. Das Oberteil jedoch ist mehr eine Bluse  für ein Mädchen denn ein Hemd. Es ist aus demselben hellblauen Stoff wie  mein Kleid und besteht aus mehreren übereinanderliegenden Schichten,  die wie bei meinem Kleid offen ausgestellt sind. Lediglich die rote  Stickerei am Saum fehlt. Alles in allem ist das Oberteil echt  wunderschön, nur eben nicht für einen Jungen.

Entweder sein  Stylist ist total bescheuert und leidet an einer noch schlimmeren  Geschmacksverirrung wie der Rest des Kapitols – wobei ich meine mich zu  erinnern, vorhin bei unserer Ankunft einige Männer in richtigen Kleidern  gesehen zu haben – oder meine Stylistin ist die Dominantere von beiden.  Ich tippe ehrlich gesagt auf letzteres. Dadurch, dass Sash so  offenkundig lächerlich gekleidet ist, kann meine Stylistin den Fokus der  Sponsoren auf mich lenken. Was dies betrifft, sind ihre Bemühen meiner  Meinung nach zwecklos. Welcher vernünftige Sponsor verschwendet sein  Geld, um einem spindeldürren Mädchen aus Distrikt 8 oder ihrem  14-Jährigen Mittribut zu helfen. Neben den Karrieros erscheinen ihnen  möglicherweise noch die Jungen aus 7 und 10 interessant, uns anderen  werden sie wie jedes Jahr wenig bis keine Beachtung schenken. Warum  bemüht sich meine Stylistin überhaupt darum, dass ich gut aussehe? Sie  kann mich offenbar nicht gut leiden und scheint mir, da ich gehörlos  bin, auch nicht einmal die geringste Chance zugestehen, oder? Warum also  setzt sie sich für mich ein? Bin ich ihr doch nicht so gleichgültig,  wie sie vorgibt und sie täuscht nur vor, dass sie mir wegen meiner  Gehörlosigkeit eine gute Platzierung nicht zutraut, damit sie vor ihren  Gleichgesinnten nicht schlecht da steht?

Ich zucke erschrocken  zusammen, als mich jemand an der Schulter fast. Doch es ist nur Yarnn.  Ich war so tief in Gedanken versunken, dass ich gar nicht registriert  hatte, dass die anderen Tribute bereits alle ihre Plätze eingenommen  haben. Eilig geselle ich mich zu Sash auf unseren Wagen.

Der  Junge zupft immer noch unglücklich an seinem Oberteil und ich lächele  ihm ermutigend zu. Er lächelt gequält zurück und starrt dann nach vorne,  wo sich gerade ein Tor öffnet und der vorderste Wagen sich in Bewegung  setzt und hinaus auf die Straße rollt. Ich kann das lärmende Getöse, das  dort draußen auf den Tribünen nun sicherlich herrscht, beinahe spüren.  Es scheint, als würde die Luft vibrieren.

Nun bin ich doch etwas  nervös. Gleich werde ich die Möglichkeit haben, Sponsoren für mich zu  gewinnen. Ich mag zwar noch so geringe Chancen haben, dass jemand mich  sponsert, aber ich muss es wenigsten versuchen, das schulde ich Lea,  meinen Eltern und Lacey. Sie hätten nicht gewollt, dass ich mich  kampflos aufgebe und mag der Kampf noch so aussichtslos sein. Ich setze  ein künstliches Lächeln auf und hebe den Kopf, dass die Leute sehen  können – sollten sie in meine Richtung schauen – dass ich noch nicht  aufgegeben habe.

Der Wagen mit den Tributen aus Distrikt 7 – der  13-Jährigen und dem riesigen 18-Jährigen, beide in hässlichen  Holzfäller-Outfits – rollt gerade hinaus ins grelle Sonnenlicht, als ich  Sashs rechte Hand an meiner linken spüre. Ich sehe zu ihm, dann auf die  Hände und wieder in sein Gesicht. Sein Blick ist flehentlich, als wolle  er sagen: „Ich schaff das nicht allein!"

Gerade als unser Wagen  von den Sonnenstrahlen erfasst wird, ergreife ich seine Hand und beginne  fröhlich lächelnd zu winken. Während ich also die frohlockende Tributin  aus Distrikt 8 mime, spüre ich die verkrampfte Hand des stocksteif  neben mir stehenden Jungen. Um uns herum auf den riesigen Tribünen  befindet sich ein Meer aus bunten Vögeln, ich meine natürlich  Kapitolsbewohnern, aber die bunten Farben ihrer Kleidung, Haaren und  auch der Haut, sind so überladen, dass es mir beinahe unerträglich ist,  ihnen ein Lächeln vorzuheucheln und nicht stattdessen einfach stur  geradeaus zu starren.

Doch es scheint zu wirken. Ich kann  beobachten, wie tatsächlich einige der Leute auf den Tribünen auf mich  zeigen und ihren Nachbarn etwas zuflüstern. Zwar werfen sie mir keine  Blumen hinterher, wie den Wägen aus den Distrikten 1,2 und 4, aber  immerhin beachten sie mich. Das ist mehr, als ich mir hätte vorstellen  können.

Vor uns kommt nur der Zentrale Platz in Sicht, auf dem  die Streitwägen der vorderen Distrikte bereits in einem Halbkreis vor  dem Balkon der Residenz des Präsidenten zum Halt gekommen sind. Ringsum  auf den Balkonen der Häuser, die die breite Straße säumen, haben sich  die angesehensten Personen des Kapitols versammelt. Als schließlich auch  die Tribute aus Distrikt 12, die wie jedes Jahr in grässlichen  Bergarbeiter-Outfits stecken, mit ihrem Wagen neben dem 11er-Wagen zum  Stehen kommen, betritt der Präsident den Balkon.

Ich kann sein  Alter beim besten Willen nicht einschätzen, er scheint irgendwie  alterslos zu sein. Präsident Snow ist klein und hat ganz weißes Haar. Er  hält seine Begrüßungsrede wie jedes Jahr und während die anderen wohl  oder übel seinen geheuchelten Worten lauschen müssen, achte ich auf  seinen Gesichtsausdruck.

Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte  man ihn beinahe für einen liebenden Onkel halten, der uns, die Tribute,  in seinem Zuhause, dem Kapitol, willkommen heißt. Sein Gesicht strahlt  einfach nur eine freundliche Zurückhaltung aus. Aber wenngleich es für  andere unerkenntlich sein mag, erkenne ich hinter dieser Fassade einen  Ausdruck tiefster Genugtuung. Der Präsident weiß, dass wir ihm und  seinen Spielen hilflos ausgeliefert sind und dass wir nichts dagegen tun  können, das befriedigt ihn zu tiefst.

Nach der Rede setzen sich  die Pferdewägen, angefangen mit dem Wagen der 1er, wieder in Bewegung  und wir rollen zurück ins Trainingscenter, welches für die nächsten drei  Tage unser Zuhause sein wird.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt