Blindlings renne ich durch die Bäume, um meinen Verfolgern zu entkommen. Ich meine jetzt schon ihren Atem im Nacken zu spüren. Doch vermutlich bilde ich mir das nur ein. Ich merke, wie ich immer langsamer werde und sich die Bäume um mich herum erneut zu drehen beginnen. Mein Körper ist erschöpft. Von der Kälte. Von der wenigen Flüssigkeit. Wann ich das letzte Mal etwas Richtiges im Magen hatte, habe ich vergessen.Dann ist da noch die Angst. Die Angst, die mich immer noch vorantreibt, obwohl ich nicht einmal mehr sehe, wohin ich laufe. Wenn ich im Kreis liefe, ich würde es nicht merken. Wenn ich in den Sumpf, in dem Eve ertrunken ist, liefe, ich würde es nicht merken. Eve – wir hatten nicht einmal Zeit, uns angemessen von ihr zu verabschieden. Nun ist sie tot und ich werde es auch bald sein.
Ich weiß nicht, wo ich mich befinde, wie weit ich schon gelaufen bin, als das Unvermeidliche geschieht. Ich stolpere über einen tiefhängenden Ast oder einen Stein und falle. Ich wünsche mir, dass ich tot bin, bevor ich aufpralle. Dass, wer auch immer mich jagt, es schnell erledigt. Ich will nicht leiden so wie Eve.
Ich lande weich auf dem kalten Schnee, dann ist er auch schon über mir. Ich weiß nicht, warum, aber ich weiß noch bevor er mich umdreht, dass es nicht der Junge aus Distrikt 1 ist. Vielleicht, weil dann schon längst sein Speer in meinem Rumpf stecken würde? Aber möglicherweise will er mich leiden sehen. Für etwas, das er meint, das ich ihm angetan habe. Aber ich kann mich nicht erinnern. Ich bin ihm das erste Mal im Kapitol begegnet und da war sofort dieser Hass. Aber es ist nicht der Junge aus 1, der mich angreift.
Zwei kräftige, grobe Hände packen mich und drehen mich herum, sodass ich in das Gesicht meines Angreifers blicken kann. Ich brauche eine Weile, bis die Schwärze vor meinen Augen den Farben des Waldes Platz macht und ich unter der dicken Mütze das Gesicht des Jungen ausmachen kann. Mein Herz zieht sich zusammen, als ich ihn erkenne. Es ist nicht der Junge aus Distrikt 1. Es ist der Junge aus Distrikt 7, Avas Distrikt. Er kniet auf mir und mit der einen Hand presst er mich zu Boden, sodass ich keine Chance habe zu fliehen. Von dem Grinsen auf seinem Gesicht wird mir schlecht. Wie kann es sein, dass er und Ava aus demselben Distrikt stammen? Ava ist so liebenswürdig. Er ist nicht besser als die Karrieros.
Mein Atem geht flach. Ich wehre mich nicht. Warum auch? Selbst wenn ich nicht ausgehungert und erschöpft wäre, gegen den 18-Jährigen habe ich nicht die geringste Chance. Er wird mich töten und ich kann nichts dagegen tun. Bitte, lass es schnell vorbei sein. Bitte, ich kann nicht mehr.
Ich möchte die Augen schließen, damit ich nicht sehe, wie er mich umbringt. Damit es vielleicht weniger schmerzhaft ist. Aber ich kann es nicht. Stattdessen habe ich die Augen weit aufgerissen und beobachte, wie er ein Messer zückt. Das Schwert, das er bei sich trägt baumelt an seiner Seite. Er lächelt mich an und in seinen Augen blitzt Wahnsinn auf. Wie viele andere Tribute er wohl schon auf dem Gewissen hat?
Er beugt sich tiefer zu mir hinunter und bringt das Messer langsam näher an meine ungeschützte Kehle. Die lange scharfe Klinge blitzt bedrohlich im Sonnenlicht, welches durch das Blätterdickicht der Bäume dringt, auf. Ich halte die Luft an und presse mich stärker gegen den Boden, um dem Messer zu entkommen. Doch es kommt immer näher. Mein Herz klopft als wolle es meiner Brust springen und der Angstschweiß lässt Tropfen auf meiner Stirn glänzen. Das Messer kommt näher und näher, bis es schließlich an meiner Kehle zur Ruhe kommt. Plötzlich fliegt der Kopf des Jungen herum und er lässt seinen Blick durch die Bäume schweifen. Ich spüre den Druck des Messers auf meiner Kehle und verliere die Kontrolle.
„Hilfe!!", schreie ich in absoluter Todesangst, wenngleich mir eigentlich bewusst ist, dass niemand mich hören würde, der mir helfen könnte. Doch mit meinem Ausbruch lässt der Druck auf meine Kehle und auch auf meinen Oberkörper augenblicklich nach. Der Junge, der über mir ragt, blickt sich panisch nach dem Urheber des Rufes um.
Ohne nachzudenken schnellt meine Hand hoch und ich entreiße ihm das Messer, welches nur noch schlaff in seiner Hand hängt. Sein Kopf fliegt zu mir zurück und als er das Messer in meiner Hand sieht, weiten sich seine Augen. Ich stoße ihm die Klinge tief in seine Brust.
Entsetzt starre ich auf meine Hand und lasse das Messer los, als hätte ich mich verbrannt. Es steckt immer noch tief in der Brust des 18-Jährigen. Sein Blick wandert hinunter zu seiner Brust und er starrt auf das Messer. Mit der Hand, die mich eben noch zu Boden gedrückt hat, zieht er die Klinge heraus und beschleunigt damit seinen Tod. Das Messer fällt blutspritzend neben mir in den Schnee, während weiteres Blut unausweichlich aus der Brust des Jungen auf mich hinab strömt. Ich stoße ihn von mir und er kippt einfach nach hinten weg.Ich richte mich auf. Ich zittere wie Espenlaub und mir ist speiübel. Entgeistert starre ich auf den Jungen, der verblutet. Den Jungen, den ich umgebracht habe. Ich. Ich habe jemanden getötet. Das Kapitol hat es geschafft und aus mir ein Monster gemacht. Ich bin ein Monster.
Erneut greife ich nach dem Messer und richte es auf meine eigene Brust. Wie soll ich damit leben, einen anderen Menschen getötet zu haben. In Distrikt 7 sitzt jetzt eine verzweifelte Mutter vor dem Fernseher, in der Gewissheit, dass sie ihren Sohn nie wiedersehen wird. In der Gewissheit, dass sie ihn nie wieder umarmen kann. Vielleicht hatte er jüngere Geschwister, die verzweifelt gehofft haben, dass ihr Bruder zurückkehrt und sie nicht alleine lässt. Freunde. Eine Freundin? Ich habe ihnen allen einen geliebten Menschen genommen. Ich! Ich bin eine Mörderin. Ich verdiene es auch zu sterben. Ich kann nicht leben in dem Wissen, dass ich jemand anderes ermordet habe.Wer gibt mir das Recht, mein Leben über das Leben eines anderen Menschen zu stellen? Warum tut uns das Kapitol das an? Warum zwingt es jedes Jahr aufs Neue 24 Kinder sich gegenseitig umzubringen? Warum? Das Kapitol hat gewonnen. Es hat mich zu einer Mörderin gemacht. Ich verdiene es zu sterben. Die Hand, die das Messer hält, zittert. Ich umfasse mit der anderen Hand ebenfalls den Griff und zwinge meine Hand, ruhig zu sein. Mein Atem geht schnell und hektisch. Heiße Tränen laufen mein Gesicht hinunter. Ich zwinge meine Hände, sich meiner Brust zu nähern. Mit der Klinge nach vorne gerichtet. Immer näher. Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod. Ich darf keine Angst haben. Ich habe den Tod verdient. Ich bin eine Mörderin. Die Muskeln in meinen Händen und Armen verkrampfen sich. Es war so leicht, dem Jungen die Klinge in die Brust zu rammen. Warum ist es jetzt so schwer? Ich zwinge die Muskeln mir zu gehorchen. Die Klinge bleibt zitternd an meiner Brust stehen.
Ich hole tief Luft, das letzte Mal in meinem Leben, als die Kanone den Erdboden erschüttert.
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Die 101. Hungerspiele★
FanfictionCorina Henson ist 16 Jahre alt und kommt aus Distrikt 8. Vor knapp 3 1/2 Jahren verlor sie bei einem Arbeitsunfall ihr Gehör. Als sie für die diesjährigen Hungerspielen ausgelost wird, scheint alles verloren. Doch dann beschließt Corina zu kämpfen...