Wie erstarrt bleibe ich in der Tür stehen und beobachte den Jungen, der gerade dabei ist, die Kissen meines Bettes aufzuschütteln. Der Junge steht mit dem Rücken zu mir am Bett. Er ist nicht viel größer als ich, wirkt aber etwas kräftiger und hat braune, kurze Locken. Ich schätze ihn auf 17, maximal 18 Jahre. Er trägt dieselbe weiß-grüne Tunika wie auch unsere Kellner beim Abendessen.„Hallo!", sage ich und sehe, wie der Junge zusammenzuckt und das Kissen fallen lässt. Er dreht sich nicht zu mir um, sondern hebt das Kissen vom Boden auf, schüttelt es erneut auf und legt es auf das Bett, um sich das nächste der vier Kissen zu schnappen. Verwirrt betrachte ich seinen Hinterkopf, warum dreht er sich nicht um? Ich warte noch einige Sekunden schweigend an der Tür, bevor ich wiederhole: „Hallo?!"
Diesmal merke ich keine Reaktion, nicht einmal das geringste Zucken. Ob der Junge wohl auch nicht hören kann? Das würde aber nicht erklären, warum er bei meiner ersten Begrüßung zusammengezuckt ist. Trotzdem, von meiner Neugier gepackt, die sowohl meine Müdigkeit als auch meine Bauchschmerzen verdrängt, nähere ich mich dem Jungen.
Als ich nur noch ein, zwei Meter hinter ihm bin, lässt er das zweite Kissen fallen und dreht sich um, um auf die andere Seite des breiten Bettes gehen und die beiden anderen Kissen aufzuschlagen. Zumindest vermute ich, dass dies seine Absicht gewesen ist. Als er mich erblickt, bleibt er stehen wie eingefroren und starrt mich an. Ich starre zurück. Seine Haut ist von einem wunderschönen Schokoladenbraun und die Augen sind grün. Ich könnte ewig in diese Augen blicken.
Wütend auf mich selbst schüttele ich den Kopf und richte anschließend den Blick auf das Bild, das hinter dem Jungen über meinem Bett hängt. Mit den Händen forme ich die Worte: Hallo, kannst du auch nicht hören?
Abermals zuckt der Junge zusammen, wie ich aus dem Augenwinkel erkennen kann. Mein Blick schnellt zurück zu ihm und so sehe ich, wie er nun selbst mit fahrigen, zittrig aufgeregten Händen antwortet: Du beherrscht die Gebärdensprache? Ich nicke aufgeregt. Warum?, fragt er und ich hätte mich beinahe gekränkt abgewendet.
Warum werde ich wohl die Gebärdensprache kennen? Sicherlich nicht, weil meine Ohren so perfekt sind, dass ich sogar das leise Rascheln der Insektenflügel hören kann!
Ich wollte dich nicht verletzen!, meint der Junge und senkt beschämt den Kopf. Kann er Gedanken lesen?Ich antworte auf seine Frage: Ich war dreizehn, als ich das erste Mal in der Textilfabrik arbeiten sollte. Es gab eine Explosion und meine Ohren haben den Knall nicht überstanden. Seitdem bin ich gehörlos. Ich habe die Gebärdensprache bei einem alten Mann in 8 gelernt, er kann auch nicht hören. Warum hast du mir vorhin nicht geantwortet? Du hast mich gehört, ich habe gesehen, wie du zusammengezuckt bist!, meine Hände betonen die Worte vorwurfsvoll und ich schäme mich dafür.
Der Junge schüttelt den Kopf und erläutert anschließend: Ich bin ein Avox!
Avox...erst kann ich den Begriff nicht einordnen, dann weiß ich es wieder. Avoxe sind die stummen Diener des Kapitols, denen als Strafe für ein meist lächerliches Vergehen die Zunge herausgeschnitten wurde, sodass sie nicht mehr sprechen können. Furchtbar ist das, einfach nur furchtbar. Aber wer jedes Jahr 24 unschuldige Kinder in eine Arena schickt, damit sie sich dort zum Vergnügen der Zuschauer gegenseitig umbringen können, schreckt davor jemanden zu verstümmeln nicht zurück.
Ich sehe den Jungen fragend an. Er bedeutet mir, auf dem Bett Platz zu nehmen und so setzen wir uns beide, bevor er beginnt, zu erzählen. Seine Hände zittern und seine Gesichtszüge wirken angespannt, in seinen Augen glitzern Tränen, doch seine Hände schweigen nicht.
Ich war gerade einmal zehn Jahre alt. Meine Heimat ist Distrikt 11. Meine kleine Schwester war erst sieben und sie war krank. Wir hatten nichts zu Essen und meine Mutter meinte, wenn Willow nicht bald etwas in den Magen bekommen würde, würde sie für immer einschlafen. Ich liebte meine Schwester und ich konnte nicht zulassen, dass sie starb. Also habe ich Getreide auf einem Feld gestohlen, damit Mutter daraus einen Getreidebrei machen konnte. Auf dem Weg nach Hause haben mich zwei Friedenswächter erwischt. Ich hatte Glück, wäre ich älter gewesen, hätten sie mich vermutlich sofort gehängt, aber ich war ja erst zehn. Also machten sie mich zu einem Avox und schickten mich ins Kapitol. Die ersten paar Jahren diente ich relativ bedeutenden Privatpersonen, bis ich in das Trainingscenter überstellt wurde. Dies ist mein drittes Jahr hier. Seit sieben Jahren habe ich nichts mehr von ihnen gehört. Meine Mutter, mein Vater, Willow, meine Freunde...nichts, vermutlich sind sie längst alle tot.
DU LIEST GERADE
Die 101. Hungerspiele★
FanfictionCorina Henson ist 16 Jahre alt und kommt aus Distrikt 8. Vor knapp 3 1/2 Jahren verlor sie bei einem Arbeitsunfall ihr Gehör. Als sie für die diesjährigen Hungerspielen ausgelost wird, scheint alles verloren. Doch dann beschließt Corina zu kämpfen...