aller guten Dinge sind drei

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Die  Schritte ersterben, der Boden ist ruhig. Ich atme stoßweise, die Augen  immer noch fest zusammengekniffen. Vielleicht ist es einfacher zu  sterben, wenn man den Mörder nicht sehen kann? Vielleicht ist es  schmerzfreier. Vielleicht geht es schneller?

Doch ich sterbe  nicht. Noch nicht. Ich warte darauf, dass er mir den Speer in den Rumpf  rammt und es vorbei ist. Doch das passiert nicht. Stattdessen vibriert  der Waldboden von einem dumpfen Aufschlag. Wie von einem Körper, der  gefallen ist. Der gefallen ist, weil er tot ist.

Ich reise die  Augen auf und der Pfeil fällt aus meiner Hand auf den Boden. Vor mir  kauert Ava. Die kleine Ava. Meine Verbündete. Sie lebt. Sie lebt! Ich  bin nicht allein. Wir beide sind nicht alleine. Wir haben uns. Ich spüre  Tränen, die sich in meinen Augen sammeln. Freudentränen, die heiß über  meine eiskalten Wangen laufen. Ich knie mich hinunter, um Ava in den Arm  zu nehmen. Doch dann weiche ich erschrocken mit weit aufgerissenen  Augen zurück.

Blut! Ihr grauer Overall ist voller Blut! Einige  ihrer Haare sind von getrocknetem Blut verklebt. Das Gesicht der  Dreizehnjährigen ist käseweiß, noch weißer als der Schnee, und in ihren  Augen glitzert die pure Panik und Verzweiflung. Ist sie verletzt? Meine  Augen fliegen ebenso panisch über ihren ganzen Körper, auf der Suche  nach irgendeiner Verletzung, aus der das Blut unaufhörlich auf den  schneebedeckten Boden strömt. Ich atme auf, als ich nichts entdecken  kann, doch dann kommt mir ein schrecklicher Gedanke. Hat sie...? Hat Ava...?  Hat meine kleine Verbündete jemanden getötet?

Nein, das will ich  nicht glauben. Das darf ich nicht glauben. Sie war doch immer so lieb  während des Trainings. Ich habe ihr vertraut. Wie soll ich das weiterhin  tun, wenn ich weiß, dass sie eines der anderen unschuldigen Kinder auf  dem Gewissen hat? Wie der Junge aus Distrikt 1, der das Mädchen aus  Distrikt 5 aufgespießt hat. Wie kann ich sicher sein, dass sie nicht  mich im Schlaf mit einem Messer erstechen könnte? Mein Blick wandert  über Avas Beute vom Füllhorn. Sie hat einen Rucksack bei sich. Und ein  Seil. Einen Schlafsack. Keine Waffe. Erleichtert atme ich auf.

Als  ich ihr die Augen sehe, deutet sie mit zittrigen Fingern auf das Blut,  dann auf sich. Schüttelt den Kopf. Sie ist unverletzt, will sie mir  damit sagen. Dann deutet sie auf sich, auf das Blut, führt ihre Hand  waagrecht an ihrem Hals entlang, deutet nochmals auf das Blut und auf  sich. Schüttelt den Kopf. Ich starre sie einen Moment lang verwirrt an.  Dann verstehe ich. Ava hat niemanden getötet. Woher das Blut stammt,  weiß ich nicht. Aber es ist weder Avas eigenes, noch das eines Opfers  von ihr.

Ich bin erleichtert. Gleichzeitig bin ich angewidert  von mir. Habe ich tatsächlich gedacht meine Verbündete hätte jemand  anderen getötet? Habe ich tatsächlich so wenig Vertrauen in sie? Warum  denke ich so schlecht von ihr?

Ava kauert noch immer auf dem  Boden, dann bricht sie plötzlich in Schluchzer aus. Ohne weiter  nachzudenken über das Blut, das an ihrer Kleidung klebt, nehme ich sie  in den Arm. Streiche ihr über den Kopf, wie es meine Mutter früher bei  mir getan hat, wenn ich aus einem Alptraum erwacht bin oder wenn ich  beim Spielen auf den Gassen von Distrikt 8 hingefallen bin und mir das  Knie aufgeschürft habe.

Ich halte die Kleine einfach nur fest.  Sie ist erst 13. Sie muss Grauenvolles am Füllhorn erlebt haben. Ich bin  beinahe durchgedreht, als ich das Mädchen aus 5 gesehen habe, wie es  sich in Todesqualen am Boden wandte. Ava war während des gesamten  Gemetzels am Füllhorn. Sie hat jeden einzelnen der sieben Tode  miterlebt. Ich weiß nicht, ob ich damit klar kommen würde. Wir müssen  Jahr für Jahr im Fernseher zusehen, wie 23 Jugendliche abgeschlachtet  werden, weil es das Kapitol so will. Weil wir sonst ausgepeitscht werden  dafür, dass wir dieses Leiden nicht ertragen. Aber hier in der Arena  ist es etwas anderes. Die Todesschreie nicht aus den Lautsprecher eines  Fernsehapparates, sondern live zu hören oder zu spüren. Das spritzende  Blut und die vor Qualen verzerrten Gesichter nicht auf einem kleinen  Bildschirm, sondern in einigen Metern Entfernung zu sehen. Zu wissen,  dass es ebenso einen selbst hätte treffen können. Dass man selbst  anstelle des Sterbenden am Boden liegen könnte und der andere die  Möglichkeit zur Flucht hätte.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt