Gehörlosigkeit, kann auch mal schön sein

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Ich vermeide es die ganze Fahrt, aus dem Fenster zu blicken. Auf den  Straßen tummeln sich immer noch hunderte Leute, die einen Blick auf uns  erhaschen wollen. Stur starre ich geradeaus auf die lederne Rücklehne  des Sitzes vor mir. Niemand sagt ein Wort – glaube ich zumindest, hören  könnte ich es ja sowieso nicht.

Unsere Fahrt endet in einer  großen Halle, in die wir durch ein riesiges Tor fahren. In der Halle  stehen bereits andere Limousinen, aus denen die Tribute aus den anderen  Distrikten mit ihren Teams aussteigen oder die bereits – was beim  Großteil der Wagen der Fall ist – verlassen auf ihren Plätzen stehen.

Während  ich mich in der Halle umblicke, erhasche ich einen kurzen Blick auf die  beiden Tribute aus Distrikt 1. In Natura sehen sie noch gefährlicher  aus als gestern Abend bei der Wiederholung der Ernten im Fernsehen. Das  Mädchen wirft seine blonden, langen Haare zurück und folgt dann ihrer  Betreuerin; der Junge schaut sich mit überheblicher Miene in der Halle  um. Als sein Blick auf mich fällt, grinst er mich fies an und reibt sich  die Hände. Ich zucke zusammen und wende den Blick erschrocken ab. Wenn  Blicke töten könnten, wäre ich jetzt schon nicht mehr allzu lebendig.

Eilig  bemühe ich mich darum, Hestia und den anderen zu folgen. Hestia führt  uns auf einen breiten, klinisch sauberen Gang, der rechts von einer  Fensterfront gesäumt ist und von dem links in regelmäßigen Abständen  Türen abzweigen. Wir sind bereits an einigen Türen vorbei gelaufen, als  die Betreuerin endlich vor einer von ihnen stehen bleibt. Auf dem  dunklen Holz ist mit heller Farbe die Zahl „8" geschrieben. Hestia  bedeutet mir mit einer ungeduldigen Handbewegung, dass ich dort hinein  zu gehen habe.

Ich werfe unserem Mentor einen unsicheren Blick  zu; er nickt. Sash, der mit angespannter Miene neben Yarnn steht, ringt  sich ein gequältes Grinsen ab. Ich grinse zurück, klopfe vorsichtig an  der Tür und trete anschließend ein.

Der Raum ist weiß  gestrichen, der Boden sowie die Decke sind eine dunkle, glänzende  Fläche. Mir gegenüber befindet sich ein Fenster und in der Mitte des  Zimmers eine Liege. Unsicher bleibe ich an der Türe stehen, beschließe  dann aber, zur Liege zu gehen und mich hinzusetzen.

Ich bin im  Erneuerungsstudio. Gleich werde ich mein ganz persönliches  Vorbereitungsteam kennen lernen. Ich habe den Gedanken kaum zu Ende  gedacht, als die Tür aufgerissen wird und drei bunte Vögel  hineingestöckelt kommen.

Es handelt sich um zwei Frauen und  einen Mann. Die erste Frau ist sehr groß und ziemlich dünn, was mich  ziemlich wundert; ich dachte immer, im Kapitol haben die Menschen mehr  als genug. Andererseits habe ich Gerüchte gehört, dass die Leute im  Kapitol es als Schönheitsideal sehen, dünn zu sein. Dies kann ich nicht  ganz nachvollziehen, aber ihre Kleidermode schließlich genauso wenig.  Die Frau hat eine knallpinke Igelfrisur und ich könnte schwören, dass  ihre Haut eine leichttürkisfarbene Tönung hat. Im Gegensatz zu ihrem  Körper ist ihre Kleidung relativ schlicht. Sie trägt ein gelbes T-Shirt  und eine dunkelblaue Hose. Ihre Kollegin hat dunkle Rastalocken und sehr  blasse Haut. Ihre Kleidung ist bunt zusammengewürfelt: Sie trägt eine  gelbe Bluse mit blauen punkten, einen pinkfarbenen Rock und eine lila  Strumpfhose. Außerdem hat sie hochhackige, giftgrüne Schuhe. Der Mann  scheint am Normalsten zu sein. Er hat zwar lange, lilafarbene Haare, die  er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat, sonst trägt er aber nur  ein grünes Hemd und eine rote Hose.

Mein Vorbereitungsteam  bedeutet mir heftig gestikulierend und diskutierend – vermutlich bin ich  das erste Mal froh, nicht hören zu können – mich auf die Liege zu  legen. Vorher soll ich mich jedoch entkleiden. Ich verdränge meine  Scham, da ich mich sowieso nicht zu wehren weiß, und lasse das hellgelbe  Kleid samt Unterwäsche zu Boden gleiten, bis ich vollkommen nackt vor  den Dreien stehe. Mit meinen Händen versuche ich meine Brust sowie meine  Schamgegend zu verdecken, während die drei um mich herumscharwenzeln,  miteinander diskutieren und offenbar auch streiten.

Als sie  endlich mit der Begutachtung fertig sind, darf ich mich endlich auf die  Liege legen. Zwei Minuten später jedoch wünschte ich mir, doch noch zu  stehen. Die mit der Igelfrisur hat damit begonnen, meinen ganzen Körper  zu enthaaren und sie lässt keinen Zentimeter meines Körpers dabei aus.  Der Mann bearbeitet meine Fingernägel, während die Dritte im Bunde meine  Augenbrauen zupft und meine Haare kämmt. Ich werde mehrmals in  irgendwelchen mir unbekannten Lotionen gebadet und am Ende der ganzen  Prozedur komme ich mir wie ein gerupftes Huhn vor, dabei sind sie doch  die schrägen Vögel hier. Glücklicherweise bin ich aufgrund meiner  Gehörlosigkeit wenigstens von ihrem Gequassel verschont worden, ich weiß  nicht, ob ich das auch noch ertragen hätte.

Meine Haut ist  gerötet und brennt, als mein Vorbereitungsteam endlich zu dem Entschluss  kommt, dass ich nun bereit für meinen Stylisten oder meine Stylistin  bin. Sie verlassen fröhlich tratschend den Raum und ich lasse mich  erschöpft auf die Liege sinken, um zwei Sekunden später wieder  aufzuspringen, als meine Stylistin eintritt. Sie macht keinen  vertrauenserweckenden Eindruck. Ihre grünen Haare hat sie fast bis zu  einer Glatze kurz geschoren und in ihrem Gesicht und an ihren Ohren sind  Piercings in allen erdenklichen Farben. Sie trägt eine pinke Weste und  einen etwas dunkleren Rock, darunter eine grüne Strumpfhose und  lilafarbene Schuhe. Obwohl sie mich freundlich anlächelt, weiche ich  unwillkürlich zurück, stoße aber sofort an die Liege und bleibe erstarrt  stehen.

Die Frau tippt etwas auf einen Bildschirm und hält mir  diesen anschließend auf Augenhöhe vor das Gesicht, sodass ich lesen  kann, was sie geschrieben hat. „Du brauchst keine Angst vor mir zu  haben! Ich bin deine Stylistin, ich bin dazu da, um dich für die Parade  und die Interviews einzukleiden. Dein Mentor hat mir berichtet, dass du  nicht hören kannst, ich werde also über diesen Computer mit dir  kommunizieren!"

Ich lese das Geschriebene schweigend durch und  beobachte dabei die Frau aus dem Augenwinkel. Sie ist mir unsympathisch.  Wie sie mich anlächelt. Nicht ernst gemeintes Mitleid. Sie glaubt, mich  wie ein kleines Kind behandeln zu können, nur weil ich eine Gehörlose  bin. Da ich nicht auf ihre Geschriebenes reagiere, blickt sie mich  fragend und eine Spur zu ungeduldig an, sodass es beinahe genervt wirkt.  Offenbar hat sie keine Lust, ihre Zeit mit einem tauben Mädchen zu  verschwenden, da dieses die Spiele sowieso nicht gewinnen wird. Für sie  bin ich bloße Zeitverschwendung.
Ich nicke kurz, um zu zeigen, dass  ich sie verstanden habe, was sie dazu veranlasst, erneut auf ihren  Bildschirm zu tippen. Nun bin ich es, die ungeduldig wird. Vielleicht  ist es auch die Nervosität wegen der bevorstehenden Parade – eine  weitere Möglichkeit, um Sponsoren zu gewinnen. Und von denen hängt mein  Leben ab.

„Roman, mein Partner, und ich habe die Kostüme deines  Mittributs und von dir aufeinander abgestimmt. Du weißt ja, dass die  Kostüme bei der Parade den jeweiligen Distrikt widerspiegeln sollen. Bei  Distrikt 8 – Textilien – ist dies relativ einfach. Ich gehe kurz dein  Kleid holen!"

Noch ehe ich fertig bin mit Lesen, verschwindet  meine Stylistin, um besagtes Kleid zu holen. Sashs Stylist heißt also  Roman...erst durch die Nennung seines Namens fällt mir auf, dass meine  Stylistin ihren Namen nicht genannt hat. Bin ich ihr so gleichgültig? Ob  sie wohl wenigstens meinen Namen kennt?

Als sie zurückkehrt, hat  sie ein hellblaues Kleid bei sich. Sie hält es mir wortlos hin und ich  nehme es zögernd entgegen. Der Stoff ist weich und fließend, Seide.  Vorsichtig, damit es auf keinen Fall reißen könnte, ziehe ich mir das  Kleid an und betrachte mich anschließend prüfend im Spiegel. Das Kleid  hat breite Spaghettiträger, die auf der Schulter leicht gerafft sind.  Direkt unterhalb der Brust fällt der Rock in mehreren Schichten hinunter  und der Saum des Kleides umspielt meine Knie. Am Saum sind mit rotem  Faden kleine Blumen und Blätter aufgestickt. Das Kleid ist wunderschön.  Aber auch wenn Distrikt 8 der Textildistrikt ist, so etwas habe ich noch  nie gesehen und wenn, wäre es sicherlich ein Vermögen wert.

Ich  werfe meiner Stylistin einen Blick zu. Ihr Gesichtsausdruck ist  zufrieden und sie macht sich noch an meinem Haar zu schaffen. Sie  versucht, es zu flechten, wie meine Mutter es vor der Ernte getan hat,  entscheidet sich aber letztlich für ein einfaches Haarband, ebenfalls  aus blauer Seide, das sie mir ins Haar bindet. Zum Schluss bekomme ich  noch blaue Sandalen und mein Outfit ist perfekt. Als ich meine Stylistin  dankbar anlächele, muss ich mich nicht verstellen, auch nicht bei  meinen geflüsterten Worten: „Es ist wunderschön!"

Meine Stylistin  zerstört meine gute Laune, indem sie lediglich kurz angebunden nickt  und mir dann bedeutet, ihr durch die Tür hinaus, hinunter zu den  Pferdewägen zu folgen. Enttäuscht von der so offensichtlichen  Zurückweisung folge ich ihr mit langsamen Schritten.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt