Springen

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Ich  laufe. Renne. Noch schneller als bei der Flucht vor dem Eis. Falls das  noch irgendwie möglich ist. Aber ich fliehe nicht mehr vor dem Eis oder  vor anderen Tributen, die mich innerhalb von Sekunden ins Jenseits  befördern könnten.

Ich fliehe vor mir selbst. Vor mir selbst und  meinen Gedanken. Ich bin ein Monster! Nie hätte ich gedacht, dass das  Kapitol gewinnen würde. Dass es mich dazu bringt, einen anderen,  unschuldigen, Jugendlichen zu töten. Nie. Es spielt keine Rolle, dass er  mich töten wollte. Dass ich nur versucht habe, mein eigenes Leben zu  retten. Ich hätte sterben sollen! Ich hätte sterben sollen! Ich hätte  als kleines, dummes, unschuldiges Mädchen sterben sollen. Immerhin wäre  meine Seele dann frei gewesen. Nun lebe ich. Aber als Monster des  Kapitols. Ich wollte das nicht. Und trotzdem war ich gerade im Begriff,  einem weiteren Unschuldigen das eiskalte Messer in die Brust zu rammen.

Ich  schüttele verzweifelt den Kopf, um den Gedanken los zu werden, während  ich, gefolgt von Ava, blindlings die steigenden Hänge der vor uns  liegenden Berge hinauf stolpere. Blut. So viel Blut. Der Junge aus  Distrikt 7. Tot. Erstochen mit seinem eigenen Messer. Von mir. Blut. Der  Junge aus Distrikt 3. Überströmt mit Blut. Eve. Ertrinkt im Sumpf aus  Schnee und Eis. Blut. Ava. Das Messer in ihrer Brust.

Nein!!! Ich  schüttele den Kopf noch heftiger und torkele die Hügel hinauf.  Stolpere, falle, schlage mir die Knie auf. Stehe auf. Weiter. Ich presse  die Hände auf meine Ohren, der Griff des Messers drückt in meine  Schläfe. Blut. Nein!! Ich will nicht verrückt werden. Ich bin nicht  verrückt. Ich darf nicht...

Ich stolpere höher und höher. Ich weiß  nicht, ob Ava mir noch folgt. Ava. So viel Blut. Sie sollte mir nicht  folgen. Ich bin eine Gefahr. Ein Monster. Der Junge aus Distrikt 7.
Ich  presse die Hände fester auf meine Ohren, schüttele den Kopf, schließe  die Augen und torkele weiter. Nun wirklich blind. Wären da nicht die  Bilder. Blut.

Blinzelnd öffne ich die Augen. Blinzele  erneut. Ich brauche eine Weile, bis ich meine Umgebung wirklich  wahrnehme. Ein eisiger, heftiger Wind bläst um meinen am Boden  zusammengekauerten Körper. Ich zittere. Ich liege auf die Ellenbogen  gestützt mit dem Oberkörper nach vorne im Schnee. Mein Gesicht schwebt  einige Zentimeter vor der weißen Masse aus Schnee, die auch hier, hoch  oben in den Bergen, die Landschaft dominiert.

Vorsichtig richte  ich mich weiter auf den Armen auf, bis ich eine sitzende Position  einnehme. Die Windböen zerzausen mein langes, rotbraunes Haar. Rotbraun.  Wie getrocknetes Blut. Ich schüttele den Kopf und betaste mit der Hand,  die nicht das Messer umklammert, mein Haar. Die Mütze muss ich verloren  haben. Wie ich hier hochgekommen bin, weiß ich nicht.

Plötzlich  spüre ich kleine, kräftige Hände, die mich zurückziehen. Zurück von dem  Abgrund, der sich vor mir in die Tiefe stürzt. Dieselben kleinen Hände  reichen mir eine Flasche Wasser. Ich öffne sie, trinke einen Schluck,  schraube den Deckel wieder zu und reiche den Händen die Flasche. Die  Flasche verschwindet und die Hände drücken mir einen Apfel in die  meinigen. Wenn ich hineinbeiße, leuchtet helles Lila auf. Vielleicht ist  der Apfel vergiftet.

Ich drehe den Kopf zur Seite, in Richtung  der Hände. Neben mir kauert Ava, meine Verbündete. Sobald ich in ihre  Richtung sehe, blickt sie zur Seite. Sie hat das Recht, sich vor mir zu  fürchten. Ich bin ein Monster. Sie hat das Recht, mich zu töten. Aber  sie tut es nicht. Der Apfel ist nicht vergiftet. Ava ist zu gut für  diese Arena. Sie sollte nicht hier sein. Von allen, die hier sind,  verdient sie es am wenigsten. Sie sollte gewinnen. Sie ist besser als  wir anderen.
Ich richte meinen Blick zurück auf den Apfel. Esse ihn.  Bissen für Bissen. Zum Glück ist er nicht rot. Ich könnte das nicht,  wäre er rot.

Erst als ich fertig bin, wende ich mich wieder Ava  zu. Sie sieht mich an. Nein, tut sie nicht. Sie schaut in meine  Richtung. An meinem rechten Auge vorbei in die Ferne. Sie deutet mit der  Hand hinter sich. Bedeutet mir, ihr zu folgen. Ich erhebe mich und  laufe ihr hinterher. Erst als wir direkt davorstehen, entdecke ich ihn.  Ein kleiner, dunkler Spalt. Eine Höhle. Ich blicke zurück. Wir sind  beinahe am höchsten Punkt der Arena angelangt. Wie auf dem  Präsentierteller. Wieder habe ich Ava in Gefahr gebracht. Sie hätte sich  verstecken können. Aber sie hat es nicht. Stattdessen ist sie mit mir  geblieben, während ich -  Wenn uns jemand gesehen hat? Wenn uns jemand  gesehen hat, wären wir jetzt so gut wie tot. Aber wir sind es nicht.  Noch nicht.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt