Schöne lächeln und winken

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Am nächsten Morgen bin ich bereits sehr früh wach und gehe sofort ins Bad. Da ich noch etwas Zeit habe bis zum Frühstück, beschließe ich, die Dusche auszuprobieren. Weil ich mein Erntekleid von gestern nicht noch einmal anziehen möchte, entscheide ich mich für ein einfaches, hellgelbes Kleid aus dem großen schwarzen Schrank. Es ist das einzige, das einigermaßen vernünftig aussieht. Die anderen haben entweder zu schrille Farben oder eine seltsame Farbkombination oder sind zu freizügig geschnitten. Nur weil ich gerade auf dem Weg ins Kapitol bin heißt das noch lange nicht, dass ich mich auch der dortigen Mode anpasse.

Im Bad streife ich meine Nachtkleidung ab und stelle mich in die Dusche hinein. Zuerst zucke ich leicht zusammen, als meine Füße den kalten Boden der Dusche berühren, doch dann empfinde ich diese Kälte beinahe als angenehm. Ich greife nach dem Duschkopf und drehe am Hahn. Sofort überströmt mich warmes Wasser. Ich seufze und entspanne mich ein wenig. Es fühlt sich an wie ein warmer Sommerregen in Distrikt 8.

Distrikt 8. Obwohl ich mich wegen der Fabriken und dem allgegenwärtigen Rauch und Gestank dort nie wirklich richtig wohlgefühlt habe, vermisse ich ihn. Er ist mein Zuhause. Ich möchte zurückkehren, unbedingt. Ich werde versuchen, zu kämpfen und entweder es ist das letzte, was ich tue, oder ich werde sie tatsächlich wieder sehen – meine Familie und Lacey. Wenn ich erst einmal das Geld habe, vielleicht können sie im Kapitol sogar meine Ohren heilen.

Es wäre so schön, wieder hören zu können. Morgens vom Gezwitscher der Vögel aus dem Wald geweckt zu werden. Es heißt, im Kapitol besitzen sie alle möglichen Hightech-Geräte und nie würde ein Bewohner des Kapitols erkranken, da sie gegen allerlei Krankheiten geschützt sind. Ich habe gehört, dass sie es geschafft haben, Menschen, die von Geburt an blind waren, so zu behandeln, dass sie sehen konnten. Werden sie das mit meinen Ohren auch schaffen?

Aber dafür muss ich erst die Hungerspiele gewinnen und wenn ich ehrlich bin, habe ich nicht die geringste Chance. Egal, was mein Vater sagt; oder Yarnn. Noch sind meine Ohren funktionslos. Die diesjährigen Karrieros sind so stark. Bei dem Gedanken an den Jungen aus Distrikt 2 wird mir schlecht. Sollte ich ihm in der Arena begegnen, ist es aus mit mir. Und der 2er ist nicht der einzige, die beiden aus 1 sind nicht besser und dass Mädchen aus Distrikt 4. Dann wäre da noch der 18-Jährige aus dem Holzdistrikt. Wie soll ich gegen sie alle eine Chance haben? Ich kann mich unmöglich die ganze Zeit in einer Höhle verkriechen und warten, bis sie sich gegenseitig erledigt haben.

In diesem Moment bewegt sich die Badtür, sie geht kurz einige Zentimeter auf, bevor sie sich wieder schließt. Verwirrt starre ich sie an, als ich zu verstehen glaube. Ich stehe offenbar schon längere Zeit unter der Dusche und nun ist es doch Zeit für das Frühstück.

Ich stelle das Wasser ab, trockne mich mit einem weichen, ebenfalls weißen, Frotteehandtuch ab, und ziehe mir das hellgelbe Kleid über den Kopf. Anschließend bürste ich mir kurz das feuchte Haar und verlasse das Bad. Mein Abteil ist leer, doch als ich es verlasse, sehe ich den wartenden Yarnn, der mich anlächelt, als er mich erblickt. Ich zwinge mich ebenfalls zu einem Lächeln und folge ihm in das Gemeinschaftsabteil.

An dem gläsernen Esstisch sitzen, wie gestern Abend auch, Hestia und Sash bereits am Tisch. Ich setze mich wieder neben den Vierzehnjährigen, der gerade an einem Glas mit einer braunen Flüssigkeit nippt. Ich probiere auch etwas von diesem Getränk. Es ist schmeckt nach Schokolade und ist sehr süß, für meinen Geschmack etwas zu süß, und ich steige lieber auf Orangensaft um. Dazu nehme ich mir Rührei mit Speck, ein Müsli und ein paar Brötchen. Wenn ich nicht auf dem Weg zur Schlachtbank wäre, könnte ich das Essen wirklich genießen.

Den Bauch schlage ich mir aber trotzdem voll – wann hatte ich je die Möglichkeit, mich satt zu essen? Wann werde ich sie wieder haben? Wenn ich in der Arena sterbe, was sehr wahrscheinlich ist, werde ich nie wieder essen können. Außerdem, je mehr ich jetzt esse, desto kräftiger bin ich für die Arena. Ich muss an meine Familie denken, die heute, wie die anderen Tage auch, ums Überleben kämpfen muss, während ich mich lediglich an den gedeckten Tisch setzen muss. Das ist nicht fair. Der einzige Trost ist, dass sie momentan nur zu dritt sind und nicht noch eine vierte Person durchbringen müssen. Wer weiß, ob sie je wieder zu viert sein werden?

Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch, als ich sehe, wie Sash neben mir nervös aufspringt und daraufhin mit zittrigen Schritten hinüber zum Fenster geht. Neugierig versuche ich einen Blick nach draußen zu erhaschen. Was hat den Jungen plötzlich so unruhig werden lassen?

Leider ist das Fenster ziemlich hoch und da ich gerade sitze, kann ich nur den Himmel erkennen. Dann sehe ich vor dem Himmel die Fassade eines Hochhauses vorbeigleiten. Sofort bin auch ich aufgesprungen und möchte gerade Sash ans Fenster folgen, als Yann mich am Arm packt und ich ihn genervt anstarre. Er zeigt auf das Fenster, dann auf mich und anschließend deutet er ein Lächeln und Winken an. Ich blicke ihn verwirrt an, mache mich von ihm los und gehe hinüber zum Fenster.

Als ich das Fenster erreiche, fahren wir gerade durch einen dunklen Tunnel. Es dauert eine Weile, die für mich wie eine Ewigkeit erscheint, bis wir den Tunnel verlassen und grelles Licht in unser Abteil strömt.

Das also ist das Kapitol – ich habe es mir irgendwie anders vorgestellt. Natürlich habe ich Fernsehaufnahmen gesehen. Aber auf den Filmen wirkte es irgendwie furchteinflößender. Stattdessen kann ich mich an der Pracht kaum sattsehen. Die Gebäude haben meist eine gläserne Fassade und ragen wie riesige Säulen in den Himmel. Auf den vielen Straßen fahren glänzende Autos in allen möglichen Farben von quietschgrün bis gelborange und pink. Rechts und links von den asphaltierten Straßen sind breite Gehwege, auf denen ein buntes Gewusel herrscht. Meine Augen tränen, aber ich ignoriere es. Ich möchte nichts verpassen.

Die Leute entdecken unseren Zug, zeigen darauf, bevor sie sich gegenseitig in Richtung des Bahnhofes, in den wir gerade einfahren, drängen. Einige der schrägen Vögel – ich kann sie nicht als Menschen bezeichnen, welcher normale Mensch läuft so herum? – winken uns zu. Augenblicklich verstehe ich Yanns Rat. Ohne nachzudenken, winke ich zurück und setzte mein freundlichstes Lächeln auf. Die Menge reagiert sofort. Sie zeigen auf mich und jubeln mir zu. Wenn uns nicht die Zugwand und das Fenster trennen würden, könnte ich hören, was sie mir zurufen.

Nein, könnte ich nicht! Ich bin seit über drei Jahren gehörlos. Und sie sind schuld daran. Nein! Jedenfalls nicht direkt. Aber es ist eine Tatsache, dass sie hier in Saus und Braus leben, während wir arbeiten, um ihnen dieses Leben möglich zu machen. Ihre Kinder müssen nicht mit 13 Jahren anfangen, in der Fabrik zu arbeiten, damit die Familie nicht verhungert. Bei ihnen herrschen höhere Sicherheitsstandards, sodass es, wenn sie Fabriken hätten, sicherlich nie zu einem solchen Unfall gekommen wäre. Während wir arbeiten und leiden, sehen sie uns dabei zu. Sehen uns dabei zu, wie wir jedes Jahr aufs Neue zwei Jugendliche aus jedem Distrikt in die Arena schicken, damit diese sich zum Vergnügen der Leute aus dem Kapitol gegenseitig umbringen können. Dieses Jahr bin ich eine der Jugendlichen. Diese Unmenschen winken und lächeln mir zu, während sie schon ganz begeistert auf meinen Tod warten.

Angewidert wende ich mich vom Fenster ab und möchte mich wieder an den Tisch setzen, als ich Yanns Blick sehe. Er bedeutet mir, dass ich mich wieder ans Fenster stellen und winken soll. Wie kann ich das tun? Ihnen zu winken, die darauf wetten, wann und wie ich in der Arena sterben werde? Ich beobachte mit versteinerter Miene, wie der Mentor etwas auf eine Serviette kritzelt und mir diese vor die Augen hält. Es steht nur ein Wort darauf: „Sponsoren!!"

Natürlich, die Sponsoren. Ohne sie ist meine ohnehin minimalistische Chance auf den Sieg kleiner als null. Wenn ich keine Sponsoren für mich gewinne, kann ich mich auch gleich zu Beginn der Spiele von der Plattform werfen. Es kostet mich einiges an Überwindung, mich wieder ans Fenster neben Sash, der übrigens weder lächelt noch winkt, zu stellen und den Leuten ein Lächeln entgegen zu bringen.

Unser Zug bleibt stehen und wir werden von einer äußerst hektischen Hestia vom Zug direkt in eine Limousine begleitet, die wahrscheinlich mehr wert ist, als alle Häuser beziehungsweise Hütten im gesamten Armenviertel von Distrikt 8. Das Gefährt setzt sich in Bewegung und rollt, beinahe gleitet, durch die Straßen des Kapitols.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt