Wie klar bin ich?

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Irgendwann  - die Sonne sendet bereits ihre ersten gelblichroten Strahlen über die  schneebedeckte Landschaft unter uns - versiegen die Tränen. Nicht weil  der Kummer versiegt wäre, aber mein Körper hat keine Kraft mehr.

Ich  kann es immer noch nicht wahrhaben. Sash. Der Jungen aus meinem  Distrikt. Ist tot. Wir sind zusammen hierhergekommen. Doch er ist tot.  Ich habe ihn nicht beschützt. Ich habe ihn verraten.

Dann der  Junge aus Distrikt 3. Ich habe ihn getötet. Warum? Warum?! Sash kommt  nicht zurück. Er ist tot. Und dennoch habe ich ihn getötet. Den Jungen  aus 3. Wie den Jungen aus 7. Aus Avas Distrikt. Ava. Vor meinem inneren  Auge blitzt ein Bild auf. Das Mädchen liegt mit ausgebreiteten Armen auf  dem schneebedeckten Boden. Ich sehe, wie sich frisches Blut wie eine  Rose auf ihrem von getrocknetem Blut rotbraunen Overall ausbreitet. Das  Messer, von welchem Blut, ihr Blut tropft, schwebt einige Zentimeter  über ihrer roten Brust. Das Messer in meiner Hand.

Ich stecke die  Faust in meinem Mund, als ich schreie. Ava zuckt erschrocken vor mir  zurück und blickt sich panisch auf der Lichtung um. Ich schüttele  verzweifelt, beinahe wahnsinnig den Kopf. Hier ist niemand. Nur ich. Und  sie. Und sie sollte gehen. So lange sie noch kann. Bevor ich erneut  zuschlage.

Corina! Du darfst nicht verrückt werden! Du kannst  Ava jetzt noch nicht verlassen. Die Karrieros sind immer noch am Leben.  Alle. Sie hätte keine Chance gegen sie. Du hast keine Chance gegen sie.  Aber zusammen...wenn ich uns beide nicht retten kann...ich muss immer noch  Ava retten. Ich kann sie aufhalten, wenn sie uns finden. Vielleicht  einen von ihnen mitnehmen und Ava kann laufen. Ich habe das Messer nicht  mehr. Ich kann ihr nichts antun, ohne das Messer. Oder? Ich bin kein  Monster! Ava ist meine Freundin! Ich darf ihr nichts antun.

Ich  fühle etwas kleines Rundes in meinen Händen. Verwundert blicke ich  hinunter. Das Gelb des Apfels leuchtet kräftig zwischen den hellgrauen  Handschuhen hervor. Ich stelle fest, dass sie nicht mehr das sind, was  sie einmal waren. Sie sind regelrecht zerfetzt, vermutlich von meinen  vielen Versuchen, meine Schreie zu ersticken, und an meiner rechten Hand  fehlt ein ganzer Finger. Und dann ist da das Blut.

Blut so viel  Blut. Der Junge aus Distrikt 7. Tot. Ich habe ihn getötet. Sein Blut an  meinen Händen. Der Junge aus Distrikt 3. Überall Blut. Nur Blut. Das  Messer. In seiner Brust. Mein Messer. Sein Blut. Tot. Ich habe ihn  getötet.

Als mich jemand schüttelt, schlage ich um mich, möchte  mich wehren. Doch sie lässt nicht los, schüttelt mich stärker. Ich komme  wieder zu mir. Ohne nachzudenken, reiße ich die Handschuhe von den  Händen, der Apfel kullert in den Schnee. Sofort dringt die eisig kalte  Luft an meine ungeschützten Hände. Doch ich kümmere mich nicht.  Stattdessen greife ich tief in den Schnee und beginne, das Blut aus  meinem Overall zu waschen. Der Schnee färbt sich hellrot und ich lasse  ihn aus meinen Händen fallen, nur um eine neue Handvoll zu greifen und  fortzufahren. Ich spüre wie meine Hände taub werden, doch das ist mir  egal. Ich sehe, dass mein Overall nicht sauberer wird, ich wasche das  Rot nur noch tiefer hinein. Doch das ist mir egal. Ich rubbele weiter  und weiter und weiter.

Schließlich packt Ava mich an meinen  Handgelenken und ich halte irritiert inne. Ich habe ganz vergessen, dass  sie da ist. Dass wir immer noch in der Arena sind. Dass wir auf einem  Berg hoch oben sitzen. Dass die Sonne bereits höher am Himmel steht.  Dass jeder uns sehen kann. Dass ich Ava mit meinem Verhalten nur nochmal  in Gefahr bringe. Weil sie mich nicht zurücklässt. Nach allem was ich  getan habe, hält sie immer noch zu mir.

Sie blickt mich an.  Direkt ins Gesicht. Das ist das erste Mal, seit sie erfahren hat, wer  für den Tod des Jungen aus ihrem Distrikt verantwortlich ist. Das erste  Mal, dass ich in ihren Augen keine Angst, sondern Sorge sehe.

„Es  tut mir so leid", wispere ich und weiß doch selbst nicht, was ich ihr  damit sagen will. Sie schüttelt den Kopf. Warum habe ich immer wieder  das Gefühl, sie sei die Ältere und nicht ich? Dabei muss ich sie doch  beschützen. Damit sie es schaffen kann. Damit sie ihre Familie  wiedersehen kann. Ihren Distrikt. Ihre Freunde. Eine letzte gute Tat.  Ich möchte sie nicht auch noch verraten.

Sanft löse ich meine  Handgelenke aus Avas Griff und richte mich auf. Kurz meine ich, dass die  Welt um mich herum zu schwanken beginnen würde, doch dann legt sich der  Schwindel. Während Ava immer noch am Rand des Vorsprungs sitzt, gehe  ich hinüber zu ihrer Höhle. Ich möchte den Rucksack schultern, da fällt  mein Blick auf den Pfeil, der an ihm befestigt ist. Ich starre ihn an.  Wäre ich nicht gefallen, er hätte mich bereits am Füllhorn ins Jenseits  befördert. Wie lange ist das jetzt her? Drei Tage, Vier? Eine Woche? Ein  Monat? Ich weiß es nicht. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren.

Ich  löse den Pfeil aus dem Rucksack, welchen ich mir auf den Rücken nehme,  und klemme den Schlafsack, nachdem ich ihn aufgerollt habe, unter den  Arm, bevor ich die winzige Höhle wieder verlasse. Sie ist nett und warm.  Schützt vor dem eisigen Wind, der draußen auf dem Plateau bläst und ist  von außen fast nicht zu sehen. Trotzdem fühle ich mich hier nicht  sicher genug. Ich denke, wir sollten wieder zurückgehen. Vielleicht in  den Wald. Unwahrscheinlich, dass sich dort jemand aufhält, nach dem  Eisregen.

Ava blickt mich überrascht an, als sie mich mit unserem  Gepäck beladen aus der Höhle treten sieht. Was hast du vor?, scheint  sie zu fragen. Ich warte, bis ich nahe genug bin, um leise und  hoffentlich kaum hörbar zu flüstern: „Wir sollten von hier verschwinden.  Ich fühle mich nicht sicher hier oben." Sie nickt, sagt aber nichts,  was ich sowieso nicht verstanden hätte. Stattdessen nimmt sie mir den  Schlafsack ab.

Ich betrachte den Pfeil, den ich immer noch in der  Hand halte. Als ich Anstalten mache, ihn hinunter zu werfen, hält mich  Ava zurück. „Bitte", wispere ich. Ich kann mich nicht kontrollieren.  Wenn ich ihr etwas antun würde, könnte ich mir das nie verzeihen.

Sie  nimmt den Pfeil wortlos an sich und steckt ihn zwischen den Schlafsack.  In stummem Einverständnis machen wir uns an den Abstieg. Es ist ein  äußerst beschwerliches Unterfangen und ich habe nicht die geringste  Ahnung, wie es Ava schaffen konnte, mich bewusstlos dort hinauf zu  befördern. Aber vielleicht war ich auch nicht bewusstlos und kann mich  schlicht nicht mehr an den Aufstieg erinnern? Ich weiß nicht, welche  Idee furchteinflößender ist.

Auf dem Weg hinunter auf die  Lichtung, die sich vor dem schützenden Wald erstreckt, rutschen wir  mehrmals aus. Einmal wäre Ava gefallen, wenn sie sich nicht im rechten  Moment an mein Bein geklammert hätte. Glücklicherweise hatte ich einen  sicheren Stand und ich habe ihr die Hand entgegengestreckt, die sie  dankbar ergriffen hatte. Ich habe wirklich gedacht, dass sie fallen  würde. Aber das ist sie nicht. Weil, wenn sie gefallen wäre – ich wäre  gesprungen.

Wir sind beide ungemein erleichtert, als wir  letztendlich den Fuß des Gebirges erreichen. Nun erstreckt sich nur noch  die einige hundert Meter freie Fläche vor uns, bevor wir in den Wald  gelangen können. Einige hundert Meter freie Fläche, die uns den  Karrieros auf dem Präsentierteller servieren wird. Aber hätten sie uns,  wenn sie uns gesehen hätten, nicht schon längst angegriffen, als wir  noch damit beschäftigt waren, nicht zu fallen? Es ist ein Leichtes,  jemanden aus einigen Metern Höhe mit einem Pfeil abzuschießen. Wenn der  Pfeil uns nicht getötet hätte, hätte uns der Sturz sicherlich den Rest  gegeben.

Trotzdem blicke ich nach links, wo meiner Meinung nach  das Füllhorn liegen müsste. Nichts. Nichts als eine unendliche freie  weiße Fläche. Wo auch immer die Karrieros sich gerade befinden, wir  können uns glücklich schätzen, dass sie uns nicht gefunden haben.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt