Diesmal merke ich gar nicht, wie ich während der Aufzugfahrt den Boden unter den Füßen verliere. Ich bin einfach zu erleichtert. Ich hätte nie gedacht, dass sich noch tatsächlich jemand mit mir verbünden würde. Jetzt habe ich Ava. Ich bin nicht mehr allein. Ich habe jemanden, mit dem ich gemeinsam die letzten Tage meines Lebens verbringen werde. Und vielleicht sind es nicht meine letzten? Vielleicht werde ich überleben? Aber wenn ich überlebe, muss Ava sterben.
Ich verdränge den Gedanken. Ich möchte mich darüber freuen, dass ich eine Verbündete habe. Dass ich nicht alleine in die Arena ziehen muss. Ich möchte nicht daran denken, dass nur eine von uns beiden gewinnen darf. Dass nur eine überleben wird. So sind die Spielregeln und ich, ein einfacher Tribut aus Distrikt 8 kann nichts daran ändern. Für das Kapitol bin ich doch nur eine weitere ihrer Spielfiguren, die aus den Distrikten gezogen werden, um in der Arena zu kämpfen. Von denen jedes Jahr 23 Figuren sterben. Aber das ist dem Kapitol egal. Wir sind dem Kapitol egal. Es kommt ihnen nur darauf an, unterhalten zu werden. Dem Präsidenten kommt es darauf an, die Distrikte zu unterdrücken. Damit es keinen Aufstand gibt.
Einen Aufstand. Das klingt so lächerlich. Als ob die Distrikte es wahrhaftig wagen würden, gegen das Kapitol aufzubegehren. Nachdem, was mit Distrikt 13 passiert ist. Nach dem letzten Aufstand. Sie nennen es die Dunklen Tage. Es soll schrecklich gewesen sein. Es sollen viele Menschen gestorben sein. Aber Menschen sterben auch jetzt. An Hunger, Krankheit und natürlich in den Hungerspielen. Das Kapitol hat uns im Griff und daran wird sich nie etwas ändern. Wir sind ihm hilflos ausgeliefert.
Als mich jemand an der Schulter berührt, zucke ich zusammen und tauche aus meinen Gedanken auf. Sash starrt mich verwirrt an. Mir wird bewusst, dass wir den 8. Stock längst erreicht haben und dass ich immer noch wie angewurzelt im Aufzug stehe.
Ich lächele Sash an und folge ihm aus dem Fahrstuhl. Gemeinsam begeben wir uns in den Wohn- und Essbereich. Die anderen - das heißt Yarnn und Hestia - sitzen bereits am Esstisch und warten auf uns. Wo auch immer die beiden Stylisten schon wieder sind, ich bin nicht traurig, dass sie es offenbar wieder einmal nicht zum Essen geschafft haben. Meine namenlose Stylistin hätte mich nur in den Wahnsinn getrieben, wie schon heute Morgen.
Erst jetzt wird mir bewusst, wie hungrig ich bin. Heute Morgen habe ich lediglich zwei Brötchen gegessen – davon hätte ich zuhause nur träumen können, aber es ist erstaunlich, wie schnell sich der Körper relativ ungewohnten Lebensbedingungen anpasst. Heute Mittag haben Ava und ich auch nicht sehr viel gegessen, da es uns wichtiger war, zu trainieren.
Die Suppe, die es diesmal als Vorspeise gibt, ist blassrosa. Sie schmeckt ziemlich süßlich und der Geruch erinnert mich an die Bonbons aus dem Süßigkeitenladen im Zentrum von Distrikt 8. Natürlich bin ich nie in den Genuss eines solchen Bonbons gekommen – es kann sich nur die Oberschicht leisten, dort einzukaufen. Aber meine große Schwester und ich sind früher nach der Schule auf dem Nachhauseweg oft daran vorbeigelaufen, um einen Blick in das Schaufenster zu ergattern. Wenn in eben diesem Moment eine der elegant gekleideten Damen mit ihren Kindern durch die Tür gekommen ist, ist der süße Duft manchmal bis zu Lea und mir hinüber geschwebt.
Der Hauptgang besteht aus gefüllten und panierten Schnitzeln in Steinpilzsoße mit Petersilienkartoffeln und rotem Krautsalat. Als Nachtisch gibt es einen Obstsalat, nur mit Früchten, die ich noch nie gesehen habe und deren Namen ich nicht kenne. Der Obstsalat ist das Beste, das ich bisher hier im Kapitol gegessen habe. Wenn ich die Arena überlebe, muss ich unbedingt etwas davon mit nach Hause nehmen, damit meine Familie auch etwas davon hat. Meine Familie, die jetzt wie jeden Abend vor halbleeren Tellern sitzt.
DU LIEST GERADE
Die 101. Hungerspiele★
FanfictionCorina Henson ist 16 Jahre alt und kommt aus Distrikt 8. Vor knapp 3 1/2 Jahren verlor sie bei einem Arbeitsunfall ihr Gehör. Als sie für die diesjährigen Hungerspielen ausgelost wird, scheint alles verloren. Doch dann beschließt Corina zu kämpfen...