Wörte auf Papier

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Es  folgt ein betretenes Schweigen, das so laut ist, dass sogar ich es  hören kann. Ich beobachte die Reaktionen der anderen genau.

Hestia  ist entsetzt und enttäuscht. Ich weiß, was sie denkt. Yarnn ist nicht  der Einzige, der die Hoffnung hatte, dass vielleicht ich dieses Jahr die  Hungerspiele für Distrikt 8 gewinnen könnte. Hestia hat genauso  gedacht. Aber nicht etwa, weil sie sich um mich sorgt. Nein, sie hat nur  ihre eigenen Vorteile im Sinn. Nachdem Calico Spinnson die 43.  Hungerspiele gewonnen hatte, hat die ehemalige Betreuerin, Farafalla, in  einen besseren Distrikt aufsteigen können und wurde durch Hestia  ersetzt. Hestia hat gehofft, durch mich ebenfalls die Möglichkeit zu  haben, in einen vorderen Distrikt zu gelangen. In Distrikt 8 munkelt  man, dass die Betreuerin gerne nach 1,2 oder 4 kommen würde. Hestia  starrt mich vorwurfsvoll an, bevor sie aufsteht und aus dem Abteil  stolziert.

Als ob ich etwas dafür könnte, dass meine Ohren kaputt  sind. Wenn jemand Schuld an dem Unfall vor dreieinhalb Jahren hat, dann  am ehesten das Kapitol und mit ihm Präsident Snow. Wenn sie die  Distrikte nicht verhungern lassen würden, hätte ich mit 13 Jahren  überhaupt nicht arbeiten gehen müssen und wäre zum Zeitpunkt des Unfalls  nicht in der Fabrik gewesen. Und wenn  das Kapitol mehr um  Sicherheitsstandards in den Distrikten bemüht wäre, wäre es erst gar  nicht zu dem Unfall gekommen.

Ich spüre, wie mir beim Gedanken  an den Unfall und an Hestias unausgesprochenen Vorwurf die Tränen in die  Augen steigen. Hastig wische ich sie weg und beobachte die anderen  beiden. In Yarnns Augen kann ich ganz kurz ebenfalls Enttäuschung  aufblitzen sehen, bevor seine Emotionen in Mitleid und Wut – nicht auf  mich, sondern auf das Kapitol, weil dieses dafür verantwortlich ist,  dass ein gehorloses Mädchen in die Hungerspiele muss– umschlagen.
Mein  Mittribut betrachtet mich mitleidig und verwirrt, außerdem kann ich  Scham in seinem Gesicht entdecken. Schämt er sich dafür, dass er sich  selbst bemitleidet und geweint hat, während ich augenscheinlich relativ  ruhig geblieben bin? Schämt er sich dafür, dass er sich selbst längst  aufgegeben hat und jetzt merkt, dass meine Chancen offenbar noch  geringer sind?

Nein, das sollte er nicht. Ich denke nicht, dass  er sonderlich viel stärker ist als ich. Er mag zwar wohlgenährt sein,  aber er ist zwei Jahre jünger als ich und vier Jahre jünger als die  meisten Karrieros. Außerdem weiß er zwar, wie man lebt, aber nicht wie  man überlebt. Während ich Hunger und Durst von Geburt an gewöhnt bin,  hat er stets genug gehabt. Er soll sich nicht für mich schämen!

Der  Vierzehnjährige ist der Erste, der das unangenehme Schweigen bricht. Er  greift nach dem Block, auf dem unser Mentor sich Notizen zu den anderen  Tributen gemacht hat, und nimmt den Kuli, den Yarnn auf den kleinen  Beistelltisch gelegt hat.

Der Junge blättert das Blatt mit den  Aufzeichnungen um und schreibt mit leicht zittriger Hand etwas auf ein  frisches Blatt Papier. Als er fertig ist, hält er mir den Block hin.  „Ich bin Sash Alison", steht darauf in einer etwas krakeligen  Handschrift.

Ich lächele ihn an und antworte: „Ich bin Corinna  Henson, aber das weißt du sicherlich schon?" Sash grinst zurück und  nickt. Ich beobachte neugierig unseren Mentor, der Sash den Block  abgenommen hat und nun ebenfalls etwas drauf kritzelt. Er hält ihn mir  hin und ich lese: „Wenn du nicht hören kannst, wie kommt es dann, dass  du sprechen kannst?"
Ich schlucke, bevor ich erzähle: „Ich hatte mit  13 einen Unfall, vorher hatte ich ein gutes Gehör. Ich habe wie jedes  Kind sprechen gelernt..." Yarnn nickt, überlegt kurz und schreibt dann  erneut auf den Block. Als er fertig ist, kann ich unter den beiden  anderen Notizen lesen: „Du brauchst eine Strategie. Im Training darfst  du kein Wort sagen, verstehst du? Keinen einzigen Ton!"
Verwirrt  blicke ich den Mann an und frage: „Aber warum? Was hilft mir das?" –  „Das Sprechen wird deine Geheimwaffe sein, verstehst du? Du könntest  deine Gegner damit in der Arena überraschen!", kommt nach eifrigem  Kritzeln die Antwort zurück.

Ich starre das Geschriebene an und  schweige. Ich soll die anderen Tribute in der Arena damit überraschen,  dass ich sprechen kann? Aber was soll mir das nützen? Noch nie hat  jemand einen anderen durch ein paar Worte umgebracht! Aber wenn Yarnn  meint, dass es mir helfen könnte...vielleicht sollte ich wirklich  versuchen, während des Trainings zu schweigen. Andererseits, wer würde  schon mit mir reden, wenn ich nicht hören kann, was man mir sagt?

Yarnn  schreibt erneut etwas auf das Blatt Papier und hält es mir hin. „Ich  werde im Kapitol einen Dolmetscher für dich organisieren", steht dort  geschrieben. „Danke!", flüstere ich und senke den Kopf. Ich schäme mich  dafür, dass unser Mentor sich wegen mir so bemüht, obwohl ich in zwei  Wochen sowieso tot bin.

Die nächsten Worte, die Yarnn schreibt,  beziehen sich auf die Ernte, die wir vor einigen Minuten gesehen haben.  Was mein erster Eindruck von den anderen Tributen ist. Also fasse ich  zusammen.

1, 2 und 4 finde ich gefährlich, insbesondere die  beiden aus 1, der Junge aus 2 und das Mädchen aus 4. Das Mädchen aus  Distrikt 3 scheint keine Bedrohung darzustellen, wobei ich aus dem  Jungen aus ihrem Distrikt einfach nicht schlau werde. Beide aus 5  scheinen relativ ungefährlich zu sein, ebenso die aus 6. Der 12-Jährige  tut mir immer noch wahnsinnig leid. Der 18-Jährige aus Distrikt 7  wiederum ist sicherlich nicht ganz ungefährlich, seine Distriktpartnerin  hat sicherlich auch keine sehr großen Chancen. In den hinteren  Distrikten könnte lediglich der 15-Jährige aus 10 noch interessant  werden, da er aufgrund seines Aussehens viele Sponsoren bekommen wird.

Yarnn  und auch Sash sind zu ähnlichen Schlüssen gekommen wie ich. Yarnn fragt  uns, wen wir uns als Verbündete vorstellen könnten. Sash wirft kurz  einen Blick zu mir hinüber und dann wieder weg, bevor er seine Antwort  auf das Blatt notiert, damit ich mitlesen kann. Er hätte wohl gerne mich  als Verbündete gehabt, aber da ich gehörlos bin, möchte er nun doch ein  anderes Bündnis. Ich kann es verstehen, trotzdem schmerzt es, vor den  Kopf gestoßen zu werden, ich hätte ihn gerne gehabt, immerhin ist er wie  ich aus Distrikt 8, aus meiner Heimat.

„Vielleicht das Mädchen  aus 6 oder die beiden aus 11", schreibt Sash auf das Blatt Papier – er  traut sich offenbar wie ich auch nicht an die Stärkeren heran. Als die  beiden anderen mich ansehen, meine ich zögernd: „Ich werde wohl die  nehmen müssen, die mich noch haben wollen, wenn sie merken, dass ich  nicht hören kann. Ich bin in der Arena doch nur eine gefährlich Last..."

Ich  spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen, bemühe mich aber nicht  darum, sie wegzuwischen, sondern lasse ihnen freien Lauf. Das ist die  Wahrheit. Wer möchte sich mit einem tauben, unterernährten,  sechzehnjährigen Mädchen aus dem Textildistrikt verbünden? Wenn ich die  Wahl hätte, würde ich es auch nicht nehmen. Die Tränen strömen warm  meine Wangen hinunter und plötzlich spüre ich, wie mich warme, starke  Arme an sich ziehen und mich fest drücken. Yarnn hält mich einfach nur  fest. Ich sehe mit verschleiertem Blick aus dem Augenwinkel, wie Sash  aufsteht und die Sitzgruppe verlässt.

Ich weiß nicht, wie lange  Yarnn mich festhält, aber irgendwann löst er die Umarmung und schreibt  auf das Papier, das immer noch auf dem kleinen Tisch liegt: „Hestia  ruft, es gibt Abendessen!"

Ich stöhne, auf die Betreuerin habe  ich momentan überhaupt keine Lust, aber mir bleibt nichts anderes übrig,  wenn ich nicht wiederholt der Grund für ihren Ärger sein möchte. Ich  wische meine Augen am Saum meines Erntekleides, das ich natürlich immer  noch trage, trocken und stehe auf. Ich sehe Yarnn, der auf mich wartet,  an und wispere: „Danke!", bevor ich gemeinsam mit ihm hinüber zum  Esstisch, der mit all diesen exotischen Speisen überladen ist, gehe.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt