Wenn ich jetzt renne, bin ich tot.

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Ich bin so aufgeregt, dass ich Angst habe, mich übergeben zu müssen.  Nun ist es so weit. Ich bin in der Arena. Zusammen mit all den anderen  Jugendlichen, die bis auf den Jungen aus Distrikt 6 alle älter sind als  ich.

Mein Blick fliegt panisch zwischen den Startplattformen hin  und her. Überall Schnee. Alles weiß. Ich möchte meine Augen schließen.  Vor dieser Helligkeit. Vor den Spielen. Vor dem, was mir bevorsteht.  Aber ich kann nicht. Ich muss sie finden. Dann entdecke ich Corina. Sie  starrt mich an. Ihre Knie zittern wie Espenlaub. Meine ebenfalls. Ich  bedeute ihr mit Blicken, dass sie in den Wald, der hinter ihr aufragt  fliehen soll. Ich werde ihr dorthin folgen. Wald bedeutet Sicherheit.  Selbst an einem Ort, an dem nichts sicher ist.

Mein Blick fliegt  erneut die Plattformen auf und ab. Die Karrieros machen sich bereit, in  Richtung des Füllhorns zu stürmen. Dorthin, wo ich ebenfalls möchte. Die  Jungen aus 3, 5 und 7. Der Kleine aus Distrikt 6. Neben mir macht sich  das rothaarige Mädchen aus Distrikt 10 bereit, davon zu laufen. Dorthin,  wo man nicht sehen kann, was kommt. Sie hat sich bei der Ernte für ihre  kleine Schwester freiwillig gemeldet. Sie wollte sie beschützen. Ich  habe keine große Schwester, die mich beschützen kann. Ich muss mich  selbst beschützen.

Meine Knie zittern unaufhörlich und mein Herz  schlägt bis zum Hals, während ich mich bereit mache, in Richtung des  Füllhorns zu rennen. Wenn ich mich beeile bin ich vielleicht schneller  als die Karrieros? Vielleicht bin ich in Sicherheit, bevor sie das  Füllhorn erreichen. Aber hier bin ich nirgends in Sicherheit.

Mein  Herz rast, als wolle es mich allein dadurch, dass es schneller schlägt,  am Leben halten. Aber es hilft nichts. Der Countdown läuft unaufhörlich  ab.

„Lasst die 46. Hungerspiele beginnen! Und möge das Glück stets mit euch sein!"

Sobald  die körperlose Stimme ertönt, renne ich. Ich renne, als würde ich um  mein Leben rennen. Aber ich laufe in die falsche Richtung. Ich bin  schneller als die anderen.
Sobald ich die ersten Gegenstände  erreiche, greife ich danach. Ein Rucksack. Ein Seil. Ein Laib Brot. All  diese Dinge presse ich an mich, als würde mein Leben davon abhängen. Und  das tut es ja auch. Ich renne weiter, obwohl ich umdrehen könnte. Dann  erreichen die Karrieros das Füllhorn.

Aus dem Augenwinkel sehe  ich, wie der Junge aus Distrikt 1 den Speer in den wehrlosen Körper des  Mädchens aus Distrikt 5 rammt. Ich würge und schreie vor Entsetzen auf.  Meine Beute entgleitet meinen Händen, während ich von Übelkeit übermannt  schwanke. Das Füllhorn. Die kämpfenden Tribute. Die Fliehenden. Alles  dreht sich um mich herum.

Wie blind taumele ich weiter auf das  Füllhorn zu. Dann stolpere ich gegen das eiskalte Metall. Mein Blick  wird etwas klarer. Ich presse meine Hand gegen das glänzende Horn. Die  Kälte dringt direkt durch meine dünnen Fingerhandschuhe. Doch es hilft  mir, bei Bewusstsein zu bleiben, während ich beobachte, wie das Mädchen  aus Distrikt 5 langsam zu Boden geht. Das dunkelrote Blut ergießt sich  auf den makellosen Schnee.

Um mich herum Jugendliche, die  aufeinander einschlagen. Meine Chance zur Flucht ist verspielt. Wenn ich  jetzt renne, bin ich tot. Wenn sie mich entdecken, bin ich tot. Langsam  taste ich mich am Horn entlang bis zur Öffnung. Einen Schritt vor den  nächsten. Immer in der Erwartung, ein Zischen zu hören und dann zu  spüren, wie ein Messer in meinen Rücken eindringt. Doch ich habe Glück.  Ich erreiche die Öffnung und klettere hinein.

Meine Knie geben  nach und ich sinke an der kalten Wand entlang zu Boden. Ich weiß, dass  ich das nicht sollte. Ich bin ein leichtes Opfer, sogar für den Jungen  aus Distrikt 6. Jeder könnte mich jetzt abstechen. Aber ich kann nicht.  Mir ist schwindelig.

Ich versuche, mich auf meine Atmung zu  konzentrieren. Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Langsam verschwinden die  Übelkeit und der Schwindel. Doch ich höre die Schreie. Es ist furchtbar.  Am liebsten würde ich die Hände auf die Ohren pressen und die Augen  zusammenkneifen. Dem Ganzen hier entfliehen. So wie es früher war, als  Kind. Ich habe die Augen geschlossen und die Welt war in Ordnung. Doch  die Welt ist nicht Ordnung. Ich bin in den Hungerspielen. Ich habe eben  gesehen, wie ein Mädchen gestorben ist. Ich höre dabei zu, wie weitere  Jugendliche grausam ermordet werden.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt