Vom Fallen und Halten

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Ich bleibe wie festgewurzelt auf dem Vorsprung stehen und wehre mich  gegen den eisigen Wind, der mich unerbittlich hinunterblasen möchte.  Doch ich kann nicht. Noch nicht.

Stattdessen beobachte ich Sash  im schwachen Licht des Mondes, wie er über die Lichtung unterhalb meines  Standpunktes sprintet. Ausrutscht, pulvrigen Schnee aufwirbelt und sich  innerhalb von Sekunden wieder aufrappelt, um weiter zu rennen. Dann  bricht eine weitere Gestalt aus den Bäumen hervor. Das rote Blut, das  seinen ganzen Körper und Overall bedeckt, schimmert unheilvoll im kalten  Mondlicht. Blut. So viel Blut. Zu viel Blut. Ich habe ihn getötet. Den  Jungen aus Distrikt 7. Das Blut.

Nein!! Ich schüttele den Kopf.  Ich darf nicht den Verstand verlieren. Nicht jetzt. Nicht jetzt, wenn  Sash da unten um sein Leben rennt. Nicht jetzt. Ich muss dableiben.

Wo  ist seine Verbündete? Willow? Das Mädchen aus dem 11. Distrikt. Wo ist  sie? Sie sollte bei ihm sein. Oder ist sie schon tot? Nein, sie haben  ihr Bild noch nicht gezeigt. Aber wer weiß, vielleicht ist sie ja in dem  Eisregen gestorben? Ich weiß nicht, wie lange ich bewusstlos war.

Sash  rennt und rennt. Doch mit jedem Schritt wird er langsamer. Er stolpert  erneut, rappelt sich auf und rennt weiter. Doch er wird langsamer.  Während der Junge aus Distrikt 3 sogar noch schneller zu werden scheint.  Er ist verletzt. Wie kann er immer noch die Energie haben, einen  anderen zu verfolgen? Ich sehe, wie sich der Abstand zwischen den beiden  Jungen verringert. Meter um Meter. Sash wird langsamer. Strauchelt. Der  Junge aus 3 schneller. Der Abstand zwischen den beiden halbiert sich.  Wird kleiner, mit jedem Schritt.

Ich möchte schreien. Möchte  schreien, dass Sash schneller laufen soll. Dass er rennen soll. Dass er  es noch schaffen kann. Doch ich mache es nicht. Es hätte keinen Sinn.  Ich bin viel zu weit weg. Er wird mich nicht hören. Und selbst wenn.

Schon  beinahe automatisch schießt meine Hand an den Mund, um meinen Schrei zu  ersticken, als der Junge aus Distrikt 3 in die Hocke geht, sich  anspannt und springt. Fast hätte ich gedacht, er hätte Sash verfehlt,  doch dann sehe ich, wie der Junge aus meinem Distrikt zu Boden geht. Der  Dreier hat ihn an den Beinen erwischt.

Ich sehe, wie Sash  verzweifelt mit den Beinen ausschlägt. Doch er ist zu schwach. Schwächer  als der Junge aus Distrikt 3. Der verletzt ist. Aber dennoch stärker.  Vielleicht habe ich ihn unterschätzt.

Ich möchte etwas tun. Was  kann ich tun? Ich habe Sash schon einmal verraten. Er hat es nicht  verdient, so zu sterben. Aber wer hat das schon?

Der Junge aus  Distrikt 3 klettert weiter nach oben und begräbt den Vierzehnjährigen  aus meinem Distrikt vollständig unter sich. Ich sehe, wie Sash sich  versucht zu wehren. Wie er mit den Beinen strampelt und mit den Händen  versucht, den Hals des anderen Jungen zu erwischen. Erfolglos. Ich sehe,  wie Sashs Bemühungen sich zu befreien immer schwächer werden, während  der Junge aus Distrikt 3 ihn immer noch unbeirrt auf dem Boden festhält,  als wäre er irgendein kleines Tier und kein Mensch.

Was kann  ich tun? Ich bin machtlos. Ich kann nur hier oben stehen und zusehen.  Zusehen, wie der Junge aus meinem Distrikt ins Jenseits befördert wird.  Sashs Bewegungen ersterben von einem Moment auf den nächsten. Er hat  sich aufgegeben. Er weiß, dass er jetzt sterben wird. Er wusste es in  den Moment, als er gezogen wurde, dass er die Arena nicht überleben  wird. Und ich kann nichts dagegen tun.

Stattdessen starre ich  gebannt auf die Szene, die sich vor mir anspielt. Der Junge aus Distrikt  3 thront immer noch bewegungslos auf Sash, der seinen Kampf aufgegeben  hat. Warum bringt er es nicht zu Ende? Er weiß, dass er gewonnen hat.  Warum bringt er es nicht einfach zu Ende? Und erlöst Sash. In den  wenigen Tagen, die wir gemeinsam im Kapitol verbracht haben, habe ich  ihn liebgewonnen, irgendwie. Nicht so wie Ava, sie ist wie eine  Freundin. Aber Sash war wie ein kleiner Bruder für mich. Doch ich kann  ihm nicht helfen. Wie schon bei Eve. Ich habe versagt. Er ist auch erst  vierzehn. Er hätte sein ganzes Leben noch vor sich. Doch die Spiele  machen alles kaputt. Sie zerstören alles. Nicht nur das Leben der  Tribute. Auch das ihrer Familien. Es ist nicht fair. Aber wann war das  Kapitol jemals schon fair?

Als es schließlich passiert, ist es  plötzlich. Ich zucke zusammen, als der Junge aus Distrikt 3 Sash den  Hals umdreht und ich die Kanone, die seinen Tod verkündet, durch den  Boden spüren kann.

Ich weiß nicht wie, aber plötzlich fliegt  mein Messer durch die Luft hinunter auf die Lichtung. Es hätte ihn  verfehlt. Es hätte ihn weit verfehlt, wenn er nicht in eben jenem Moment  beschlossen hätte, dass es besser wäre von dort zu verschwinden. So  rennt er direkt in das fliegende Messer hinein, welches sich durch  seinen blutgetränkten Overall in seine Brust gräbt. Ich meine, seinen  qualvollen überraschten Schrei hören zu können und presse mir die Hände  auf die Ohren.

Die Kanone schickt eine neuerliche Erschütterung  durch den Boden und ich merke, wie meine Knie unter mir nachgeben.  Zeitgleich mit dem Jungen aus Distrikt 3 sinke ich zu Boden. Meine Augen  sind ungläubig wie festgefroren auf die Szenerie einige Meter unter mir  gerichtet.

Nein! Ich habe erneut getötet. Ich habe einem  weiteren Menschen das Leben genommen. Als ob ich das Recht dazu hätte.  Habe ich nicht. Ich bin eine Mörderin. Ein Monster des Kapitols. Und das  ist nicht das Schlimmste. Ist mir nicht das Messer durch die Finger auf  den Boden geglitten, bevor ich Sash auf die Lichtung habe rennen sehen?  Wie ist es zurück in meine Hand gekommen? Warum kann ich mich nicht  daran erinnern, es wieder in die Hand genommen zu haben?! Warum? Wer  garantiert mir, dass ich nicht aufwache und Ava sehe, mit dem Messer in  der Brust. Wer garantiert mir, dass ich nicht auch sie unbewusst  umbringe? Niemand! Solange ich bei ihr bin, ist sie in viel größerer  Gefahr als sie es ohne mich wäre. Ich würde es mir nie verzeihen, nie,  wenn ich... Nein, ich muss gehen, wenn ich sie schützen will. Ich muss  gehen.

Sie wird es schaffen...irgendwie. Sie kann klettern.  Vielleicht kann sie sich in den Bäumen unten im Wald verstecken, bis sie  die Einzige ist. Sie muss überleben. Sie hat es verdient. Ich nicht.  Ich habe schon zwei Menschen auf dem Gewissen und ich könnte nie damit  leben. Nie. Ich sollte gehen. Gehen, damit sie leben kann. Und  vielleicht...vielleicht nehme ich ja einen der Karrieros mit an den Ort  der Erlösung. Es ist egal, ich habe schon getötet und wenn ich nicht  leben will, ist es egal. Ich bin schon eine Mörderin. Und ich verdiene  es zu sterben. Ich verdiene es. Ich verdiene es. Ich verdiene...

Ich  zucke unwillkürlich zusammen, als sich plötzlich zwei sanfte, warme  Arme um meine Schultern legen. Ohne es zu wollen, schmiege ich mich in  diese Umarmung, klammere ich fest an den Armen und versuche zu  vergessen. Einfach zu vergessen. Die Tränen, die mir heiß meine  eiskalten Wangen verbrennen, ignoriere ich. Stattdessen halte ich mich  fest. An einem Ort, an dem es nichts mehr gibt, woran ich mich  festhalten könnte.

Einfach nur fest.

Die 101. Hungerspiele★ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt