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Jaxx steht an der Kante eines Daches und schaut in die Tiefe. Ich stehe neben ihm und beobachte ihn fasziniert. Obwohl ihn nur einige Millimeter vom sicheren Tod trennen, ist er komplett ruhig. Nicht einmal seine Atemfrequenz ist erhöht. Er wendet sich zu mir und schaut mir in die Augen. Aber was ich sehe, macht mir Angst. Es ist nicht der Jaxx den ich liebe, sondern ein anderer. Ihm läuft Blut aus den Augen und sammelt sich am Kinn. Ich will schreien, aber er hält mir den Mund zu. Auch seine Hände sind blutverschmiert. Der metallische Geruch sticht in meiner Nase. Ich wehre mich gegen seinen Griff. Und dann fallen wir. Und fallen. Und fallen...

Nass geschwitzt wache ich auf und beginne zu weinen, ohne dabei eine einzige Träne zu vergießen. Zitternd schlinge ich meine Arme um meinen Oberkörper und drücke ihn zusammen, als wollte ich die Erinnerung an diesen Jaxx aus mir herausdrücken. Aber sie geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Jaxx hat Blut an den Händen. Mein Bild von ihm beginnt sich zu verändern, und leider gar nicht im positiven Sinne. Was hatte dieser Traum zu bedeuten? Haben Träume überhaupt Bedeutungen? Ich klettere aus dem Bett und mache mich auf den Weg in die Küche. Meine Füße bewegen sich lautlos über den Steinboden. Aus dem Wohnzimmer dringt Licht in den stockdunklen Flur. Wie in Trance gehe ich auf den Schein zu und stoße die Tür auf. Dahinter steht Doc. Sein Gesicht ist zu einer Fratze verzerrt, während er Bez mit einem Messer attackiert. Ich will ihm zur Hilfe eilen und mich auf Doc schmeißen, aber ich kann mich nicht bewegen. Meine Füße sind wie festgeklebt und rühren sich keinen Millimeter von der Stelle.


Erneut schrecke ich aus dem Schlaf. Ungläubig kneife ich mir in den Arm und verspüre ein leichtes Kribbeln. Ich konzentriere mich und kneife erneut. Und tatsächlich spüre den Schmerz fast vollständig. Vielleicht sollte ich damit aufhören, denn das tut wirklich weh. Aber wenigstens bin ich mir sicher, wirklich wach zu sein. Neben mir liegt Bez und dreht sich auf die andere Seite. Ohne ihn zu wecken stehe ich auf und gehe in den Kleiderschrank. So wie es aussieht, verliere ich den Verstand. Welcher gesunde Mensch träumt sonst so einen Mist? Ich knipse eine kleine Lampe an, die warmes Licht an die Wände wirft. Das Licht in der Dunkelheit. Gedankenverloren verschiebe ich das große Kleid auf der Stange und gehe in das Waffenarsenal. Das kalte Metall der Waffen beruhigt mich. Ich nehme eine der Pistolen aus dem Regal und halte sie mir an die Stirn. Mit der Kälte kommt auch Klarheit in meinem Gehirn an. Ich muss hier raus. Ich will nicht mehr in Cambridge sein, ich will zurück in die Baze. Meinem Zuhause, wo ich mich wohlfühle. Vor nicht allzu langer Zeit wäre mein Heim garantiert noch in Miami gewesen, aber seltsamer Weise sträube ich mich in Gedanken sogar, an diesen Ort zurückzukehren. Mit der Baze ist das anders. Aber ich kann nicht zurück, solange Doc sein Spielchen noch treibt. In der Baze hat er Zugang zu wichtigen Orten und hat Kontakt zu zu vielen Menschen. Denn leider – und das lässt sich nicht verleugnen – bin ich Königin von Verbrechern. Nicht von der Nachbarschaftswache oder dem Spielkreis irgendeines Vorortes. Tag für Tag habe ich es mit Menschen zu tun, die Leid und Elend in der Welt verbreiten. Ehrlich gesagt habe ich auch nichts dagegen, und genau das macht mich vermutlich zu einer guten Königin. Aber Verbrechern kann man nicht trauen, und Doc in das Nest der Verbrecher zu bringen ist vermutlich mehr als dumm. Also muss ich mich erst um Doc kümmern, um in die Baze zurückkehren zu können. Voller Entschlossenheit lege ich die Waffe zurück und schließe die Waffenkammer hinter mir. Und wo ich gerade da bin, ziehe ich mich auch an. Zehn Minuten später stehe ich wieder im Schlafzimmer und werfe Bez aus dem Bett. Von meinem kleinen Aussetzer gestern Abend ist nichts mehr zu merken. „Steh auf, ich will hier raus. Wir müssen uns heute um Doc kümmern", tröte ich ihm ins Ohr, dann klaue ich ihm die Decke. Bez schreckt hoch und fällt aus dem Bett. „Was zur Hölle soll das denn werden?" Er springt hoch und krallt sich seine Decke zurück. Ich mustere ihn skeptisch. „Ich wecke dich." „Danke, das hätte ich nicht gemerkt", antwortet er säuerlich, beginnt dann aber ohne ein weiteres Widerwort, sich anzuziehen. Ich warte nicht auf ihn, sondern renne schon die Treppe hinab ins Erdgeschoss, wo mir ein verschlafen aussehender Fothy entgegenkommt. „Was machst du hier zu derart nachtschlafenden Zeiten? Das ist nicht gesund, sag ich dir." Er schlurft weiter und rennt dabei gegen einen Pfosten. Vermutlich sollte ich mich um ihn kümmern, aber das ist mir im Moment herzlich egal. In der Küche angekommen beginne ich damit, die Kaffeemaschine mit Kaffeepulver und Wasser zu füllen und schaffe es sogar, sie in Gang zu setzen. Es ist beinahe peinlich, dass ich ohne fremde Hilfe vermutlich verhungern würde, weil ich nicht kochen kann und ewig brauche, um Kaffee zu brühen. Ich mache mich auf den Weg in den Keller und steuere sicher die kleine Apotheke an, die sich neben der Küche befindet. Neben Aspirin und Paracetamol finde ich auch Vomex und Nasentropfen. Ich will die Hoffnung schon aufgeben, als ich unter den schrecklich aussehenden, kleinen braunen Fläschchen voller homöopathischen Mitteln auch ein älteres Röhrchen mit den Tabletten finde, die ich suche. Mit einem Lächeln im Gesicht hopse ich die Treppe wieder nach oben, wo der inzwischen fertig aufgebrühte Kaffee dampfend auf mich wartet. Aus einem der Küchenschränke schnappe ich mir ein paar Tassen und verteile das Getränk gleichmäßig, danach folgt Zucker. Ich schaue mich um und als ich mich vergewissert habe, dass ich alleine bin, ziehe ich das Tablettenröhrchen aus meiner Hosentasche, schütte mir zwei Tabletten in die Hand und zerdrücke diese dann mit dem Rand einer weiteren Tasse, sodass ein feines Pulver entsteht. Das kippe ich wiederum in eine der Kaffeetassen, sorgsam darauf achtend, sonst keine Tasse zu kontaminieren. Immer noch gut gelaunt stelle ich die Tassen auf ein Tablett und mache mich auf den Weg. Die erste Tasse schnappt sich Bez, der mir auf der Treppe entgegen kommt. Die nächste stelle ich neben Fothys Bett und die letzte mit den Tabletten reiche ich Doc, als ich ihm auf dem Flur begegne. Er lächelt mich an und beginnt zu trinken. Ich mache mich wieder auf den Weg nach unten und finde dort Bez vor. „Wieso lachst du so?" Er schaut mich verblüfft an. „Ich habe Doc Schlaftabletten in den Kaffee geschüttet." Bez hält sich die Hand vor die Augen. „Wozu denn das? Was soll das?" „Ich will das jetzt geklärt haben. Und versuch gar nicht erst, mir da rein zu pfuschen, das ist meine Angelegenheit. Und ich kümmere mich auch darum, du brauchst dich also gar nicht so aufzuregen." Bez hebt die Hände. „Davor war nicht die Rede." Ich zucke mit der Schulter und drehe mich dem Kühlschrank zu. Aus dem oberen Stockwerk ist ein lautes Knallen zu hören. Meine Mundwinkel gehen von alleine nach oben. Erfreut wirbele ich herum und renne die Treppe hoch. Dort steht schon Fothy vor Docs Zimmertür und klopft vorsichtig an. „Doc? Alles klar bei dir?" Keine Antwort. Ich stoße die Tür auf. Doc liegt auf dem Bauch ausgestreckt auf dem Boden und sabbert schnarchend auf den Teppich. Fothy schaut mich fragend an und hilft mir dann, Doc aufzurichten. Gemeinsam hieven wir ihn auf sein Bett, und während Fothy aufpasst, dass Doc nicht an seiner eigenen Zunge erstickt, beginne ich damit, das Zimmer zu durchsuchen. In der Nachtischschublade finde ich tatsächlich das Handy, das auch auf dem Überwachungsvideo zu sehen war. Große Klasse. Das Zimmer ergibt sonst nichts, obwohl ich wirklich gründlich gesucht habe. Fothy schaut mir dabei die ganze Zeit zu. „Was wird das eigentlich?" „Wir haben einen Maulwurf. Als wir gestern angeblich im Auto waren, sind wir in die Baze geflogen und haben dort etwas erledigt. Dabei haben wir eine Liste gefunden, die Jaxx wohl irgendwann einmal angelegt hat. Das Problem an der Sache ist nur, das die Liste nur Verräter enthält." Fothy schnappt nach Luft und schaut angeekelt auf Doc. „Ich habe ihn für einen Freund gehalten. Ich hätte diesem Dreckskerl mein Leben anvertraut!" Ich weiß genau, was Fothy meint. Doc war immer sehr vernünftig und hat irgendwie immer rational gehandelt. Er wäre der Letzte, dem ich neben Bez und Fothy Verrat zugetraut hätte. „Ich verstehe nur nicht, wieso. Aber das habe ich bei Thekla auch nicht verstanden. Wo ist die eigentlich?" Fothy antwortet mir nicht, er scheint in Gedanken versunken zu sein. Vermutlich reagiert er in nächster Zeit auch nicht mehr. Ich mache mich auf den Weg in Docs Kleiderschrank, der viel kleiner als mein eigener ist. Unvorsichtig reiße ich eine Schublade nach der anderen bis zum Anschlag aus den Kommoden heraus und durchwühle deren Inhalt. Leider oder viel besser zum Glück finde ich nichts. Aber in diesem Moment komme ich mir reichlich blöd vor. Ich habe das Handy gefunden, aber das war es auch schon. Als ich kurz davor bin, aufzugeben, schaue ich mich genau um. Wo würde ich etwas Wichtiges verstecken? Unter einem Schrank? Zu offensichtlich. Hinter einer Kommode? Nicht leicht zugänglich. Doppelter Boden? Klassiker, aber irgendwie kann ich mir das bei Doc nicht vorstellen. Der müsste ja irgendwie auch da hingekommen sein, und ich bezweifle ernsthaft, dass Doc derart handwerklich begabt ist, dass er sich einen zweiten Holzboden konstruieren könnte. Bleibt nicht mehr viel übrig. Ich schaue mich gründlich um und drehe mich einmal um meine eigene Achse in der Hoffnung, eine Anomalie zu entdecken. Und tatsächlich finde ich eine kleine Unebenmäßigkeit auf dem Boden. Ich knie mich vor die Stelle und ziehe ein Skalpell aus einer Schublade, das ich zuvor bei der Durchsuchung gefunden habe. Mit einem einzigen sauberen Schnitt ziehe ich die Klinge über den Boden und reiße ein Stück Teppich heraus. Darunter finde ich eine schmale Mappe aus dünnem Plastik. Obwohl ich vor Neugier beinahe platze, öffne ich sie nicht, sondern klemme sie mir unter den Arm und gehe zurück zu Fothy. Der scheint sich inzwischen wieder unter Kontrolle zu haben. „Was hast du da?" Er lehnt Doc gegen dessen Kopfstütze und kommt zu mir. Ich reiche ihm die Dokumente und ziehe ihn mit nach unten. Dort sitzt Bez am Küchentisch und liest eine Zeitung. Als wir den Raum betrete, schaut er verwirrt auf. „Was ist los?" „Ich habe Doc betäubt und unter seinem Teppich diese Mappe gefunden." Ich deute auf Fothys Hände. „Spinnst du? Womit?" Ich ziehe das Tablettenröhrchen aus meiner Hosentasche und reiche es ihm. „Du weißt schon, dass Midazolam bei falscher Dosierung tödlich ist?" Ich zucke mit den Schultern. Das ist mir gerade ziemlich egal. Ich will nur zurück in die Baze. Bez hält sich die Hand vor die Augen und schüttelt den Kopf. „Wie viel hast du ihm davon gegeben?" „Zwei Tabletten in Kaffee." Er seufzt und schüttelt den Kopf erneut. „Jetzt ist es sowieso zu spät." Er streckt die Hand aus und lässt sich von Fothy die Mappe geben. Gespannt beugen wir uns alle darüber, als Bez die erste Seite aufschlägt. Zum Vorschein kommt ein Blatt mit lauter komisch geordneter Passfotos verschiedener Menschen, deren Namen sauber und ordentlich darunter stehen. Direkt auf der ersten Seite entdecken wir Doc, der unbeteiligt in die Kamera schaut. Daneben ist auch ein Foto von Thekla zu sehen, als sie noch jünger war. Auch die zweite Seite ist voller Fotos. Menschen, die ich noch nie zuvor gesehen habe, schauen mich an. Wenn sie wirklich vor mir stehen würden, wäre ich jetzt schon tot. Die dritte Seite ist anders. Auf ihr ist eine Liste voller Zahlen und kryptischen Buchstabenreihen gedruckt, die absolut keinen Sinn ergeben, was vermutlich so sein soll. „Ich hoffe, das ist eine einfache Codierung, auch wenn ich noch kein System erkannt habe", stellt Fothy sachlich fest. Die vierte Seite ist die letzte. Erstaunt betrachte ich sie: An mehreren Stellen kleben hauchdünne Speicherkarten mit verschiedenen Aufschriften. Bez zieht beide Augenbrauen hoch. „Das ist jetzt ungewöhnlich. Aber umso besser für uns." Zu dritt beraten wir, wie wir weiter vorgehen wollen. Und haben eine halbe Stunde später einen festen Plan.


Victories (Buch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt