62

190 6 0
                                    


Am selben Abend verlassen wir Italien, eigentlich früher als erwartet. Meine Augenpartie habe ich mit Make Up abgedeckt, zumindest so gut es eben ging. Trotzdem sieht man die roten Areale durchschimmern. Bernie sitzt neben mir auf dem Rücksitz des massiven SUV und versucht nach wie vor fieberhaft, den Ursprung des Videos herauszufinden. Ich gebe mich damit zufrieden, in meiner Wohnung in der Baze herauszufinden, wie wahr die Aufnahme tatsächlich ist. Auch wenn mir das nicht leicht fällt, zwinge ich mich, an etwas anderes zu denken.


Der Flughafen in Bologna ist gestopft voll und nur mit Mühe erreichen wir das Privatterminal, ohne jemanden auf unserem Weg umzufahren. Fothy hat darauf bestanden, dass wir unser gesamtes Gepäck und sonstiges Equipment jetzt schon mitnehmen und so war es nötig, mit mehreren Autos zu fahren. In einem Hangar wartet wie gewöhnlich meine persönliche Air Force One in der Mittagshitze nur auf mich, um mich wieder nach Hause zu bringen. Bez begleitet mich in die Druckkabine, während die anderen sich um die Gepäckverladung kümmern. Vorsichtig setzt er mich in einen der Sessel und klappt die Lehne so weit nach hinten wie möglich, sodass ich noch vor dem Start eingeschlafen bin.


Wir landen am nächsten Morgen in Los Angeles. Ausgeschlafen und merkwürdiger Weise topfit entsteige ich dem Flugzeug nach einer schnellen Dusche und steige in die bereitstehende Limousine, die mich alleine nach Malibu fahren soll. Die anderen werden nachkommen. Auf der Fahrt kann ich mein potentiell bevorstehendes Wiedersehen mit Jaxx nicht mehr verdrängen. Dennoch lege ich nicht allzu viel Hoffnung in die ganze Angelegenheit. So oft ich auch darüber nachdenke, kann ich mir nicht vorstellen, dass er noch am Leben ist. Ich habe ihn fallen sehen. Ich habe ihn sterben sehen. Und gestern habe ich ihn lebend gesehen. In diesem Moment erreichen wir die Baze und ich betrete mein Heim durch den offiziellen Haupteingang. Die Eingangshalle ist gerammelt voll, aber alle machen mir Platz, als sie mich sehen. Über verschiedene Rolltreppen und Treppen erreiche ich mein Stockwerk. Kaum habe ich den Flur betreten, reden auch schon alle auf mich ein. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich keiner einzigen Stimme Gehör schenke, sondern stur mit dem Blick geradeaus durch die Menge wate. Mein Ziel ist die Tür zu meinem Aufzug, der mich direkt in meine Wohnung bringen soll. Dahin darf mir niemand folgen außer den Mitgliedern meines Inneren Kreises. Und die sind befinden sich noch am Flughafen und kümmern sich um das Gepäck. Chili ist der Letzte, der zwischen mir und meinem Ziel steht. Ihn kann ich nicht zur Seite schieben. „Ist es wahr?" Ich seufze und schaue ihm direkt ins Gesicht, was ihn leicht zurückschrecken lässt. Kein Wunder bei meinem momentanen Zustand. Zumal ich das Make Up wieder entfernt habe. „Ich habe keine Ahnung." Irgendetwas sagt ihm, das ich die Wahrheit spreche und er gibt den Weg frei. In diesem Augenblick fühle ich mich wie der Ritter, der einen Drachen besiegt hat und nun zu seiner Prinzessin klettern darf. Oder wie Ödipus, der gerade das Rätsel der Sphinx gelöst und damit eine ganze Stadt gerettet hat. Aber gleichzeitig am Rande einer Klippe steht. Und je nachdem was ihn in Theben erwartet, geht er einen guten Schritt nach vorne oder macht einen verhängnisvollen Schritt nach hinten. Ungeduldig und zitternd drücke ich auf den Knopf im Fahrstuhl, verfehle ihn beim ersten Versuch sogar. Doch als schließlich das bekannte Brummen einsetzt, das die Bewegung des Aufzuges signalisiert, habe ich zumindest meine Ungeduld etwas unter Kontrolle. Meine Hände zittern immer noch. Was wird mich erwarten? Steht er im Wohnzimmer neben dem Bach und öffnet seine Arme? Liegt er halb tot auf dem Boden uns stirbt? Oder ist er vielleicht gar nicht da und es handelt sich bloß um eine Vermutung, einen Hoffnung zerstörenden Scherz? Ich weiß es nicht. Und ich weiß auch nicht was passieren wird, wenn ich die Antwort kenne. So viel Ungewissheit nagt in meinem Inneren mein Gehirn an. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich absolut keine Ahnung was ich tun werde. Dabei hatte ich sogar bei meiner Entführung einen klareren Kopf als jetzt und wusste, wie ich mich verhalten muss. Damals ist alles gut gelaufen und ich habe das wundervollste Geschenk dieser Erde erhalten: Eine Familie. Vielleicht gibt es die ausgleichende Gerechtigkeit und als Antwort auf das erste Ereignis erwartet mich jetzt eine große Enttäuschung. Aber noch einmal: Ich habe keine Ahnung. Das mir wohl bekannte ‚Pling' ertönt und reißt mich aus meiner Apathie. Ich drehe mich um, mit dem Rücken zum Wohnzimmer. Aber der Aufzug ist verspiegelt und so sehe ich, wie die Türen beinahe lautlos zurückfahren und den Blick in den Raum freigeben. Ich schnappe nach Luft und drehe mich um. Werde ruhig. Meine Hände hören auf zu zittern.


Victories (Buch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt