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Ich werde von Fothy geweckt, der mir in der Schulter herumbohrt und ein Projektil zu Tage fördert. An meinem Bein kann ich schon einen dicken Verband spüren, ich habe mich wohl doch nicht geirrt. „Bleib liegen. Doc kommt gleich wieder und kümmert sich um dein Gesicht." Stimmt, da war ja was. In Campinellis Haus hatte er auch schon gesagt, dass ich nicht in den Spiegel schauen soll. Jetzt bin ich erst recht gespannt. Ich konzentriere mich auf mein Gesicht, kann aber keine Schmerzen spüren. Und meine Arme sind zu schlaff, als dass ich sie jetzt heben könnte, um zu tasten. Stattdessen dämmere ich einfach wieder weg.


Das nächste Mal liege ich in meinem Bett im Pampahaus und kann mich wieder einiger Maßen bewegen. Aber als ich das tue, geht ein schrilles Klingeln los und führt dazu, dass die gesamte Mannschaft in meinen Raum stürmt und mich zurück in meine Kissen drückt. „Wie geht es dir?", fragt Fothy mich besorgt und schaut mich eindringlich an. „Ganz gut." „Hast du Schmerzen?" „Eigentlich nicht. Alles okay." Bez hilft mir dabei, mich vorsichtig aufzusetzen. Ich richte meine Augen auf das Fenster und erblicke die Weite des unendlichen italienischen Nichts. Ich will blinzeln, als mein Blick auf die verspiegelte Tür meines Schrankes fällt. „Was zur Hölle", keuche ich und die gesamte Luft entweicht meinen Lungen. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst in keinen Spiegel schauen", sagt Doc. „Da hängt aber einer." Entgegen aller Vorsicht berühre ich mein Gesicht. Die Ampullen haben mich in ein lebendes Monster verwandelt. Das Gewebe um meine Augen herum ist ganz rot und vereinzelt treten blaue Adern heraus. „Ich sehe aus wie ein Zombie!" kreische ich panisch. „Das war der einzige Weg, deine Augen zu retten. Bei dem Gas handelte es sich um Senfgas. Das haben die Deutschen im ersten Weltkrieg gegen ihre Feinde eingesetzt. Die Ampullen und die Maske haben dir das Leben gerettet. Und das geht wieder weg. Es dauert aber noch eine Woche." Einigermaßen beruhigt sinke ich wieder zurück in die Kissen. „Wie lange habe ich geschlafen?", frage ich in die Stille hinein. Diese Stille hält noch einen Moment an. „Kriege ich darauf noch eine Antwort?", frage ich gereizt. Fothy beißt sich auf die Lippen. „Ich will dir die Wahrheit sagen, aber du darfst dich nicht aufregen, das kann sonst böse ausgehen." Ich nicke einverstanden. „Du hast seit deinem letzten wachen Moment drei Tage im Koma gelegen, bist gestorben und reanimiert worden. Und dann hast du bis heute noch einmal fünf Tage im Koma gelegen, bist kurz aufgewacht und beinahe im selben Augenblick wieder in Ohnmacht gefallen. Und dann bist du wirklich wach geworden." Ich war tot. Diese Worte graben sich wie Bankräuber zu meinem Gehirn durch und vergiften meine Gedanken. Ich war tot und habe im Koma gelegen. Mir fehlen acht Tage. Mehr als eine Woche fehlt. Ich hole mehrmals tief Luft und versuche, meinen Puls unten zu halten. Und das sogar mit Erfolg. „Es kann sein, dass Erinnerungslücken auftreten werden oder dass dir ohne Vorwarnung schlecht wird. Ansonsten bist du prima geheilt: Deine Schulter ist wieder einiger Maßen intakt und dein Bein darf wieder belastet werden. Und übermorgen fliegen wir zurück nach Malibu." Das ist der erste Satz, der mich wirklich interessiert seit ich wieder wach bin. Zurück ich die Baze. Zurück nach Hause. Zwar ohne Bez an meiner Seite, aber immerhin am Leben. Bevor ich protestieren kann, spritzt Doc mir irgendetwas und ich dämmere wieder weg.


Am nächsten Tag ist die Klingel ausgeschaltet und sämtliche Kanülen, Schläuche, Herzmonitore und weiß der Himmel was noch sind verschwunden. Neben meinem Bett steht ein Paar Krücken mit deren Hilfe ich mich auf den Weg in das Badezimmer mache. Meine Haare sehen schlimm aus. Ganz abgesehen von meinem Gesicht. Die Rotfärbung ist tatsächlich schon ein wenig blasser geworden, aber wenn ich die vorherige Färbung blutrot genannt habe, bin ich jetzt bei Karminrot. Aber wenigstens ein Fortschritt. Klapprig stelle ich mich unter die Dusche und lasse mir warmes Wasser über den Körper laufen. Auf dem Boden sammelt sich das dreckige Wasser, das in einem Strudel im Abfluss verschwindet. Vorsichtig ertaste ich die Schusswunden. Meine Schulter hat es nicht so schlimm erwischt wie mein Bein: Die Kugel ist einfach stecken geblieben, zwischen den ganzen Sehnen und Knochen und hat nur eine Fleischwunde verursacht, mein Bein hingegen hat mit einer Sehnenablösung zu kämpfen, die Doc mit Hilfe der neuartigen Gerätschaften aus der Technikabteilung wieder geflickt hat. Nackt stelle ich mich vor den großen Spiegel und betrachte mich. In dieser kurzen Zeit seit ich eine Verbrecherin bin, habe ich mich drastisch verändert. Wo vorher einige Speckpölsterchen waren, sind jetzt Muskeln. Die glatte makellose Haut an meinem gesamten Körper musste einiges in Kauf nehmen und ich habe viele verschiedene Narben. Und schließlich mein Gesicht, das so entstellt ist. Und obwohl Doc mir gesagt hat, dass es wieder weggeht, glaube ich ihm nicht. Quer über dem rechten Auge wird eine feine Narbe übrig bleiben, wo mich zusätzlich irgendetwas getroffen hat. Aber das ist nicht so schlimm. Trotzdem ein bisschen frustriert verlasse ich das Bad merkwürdig in ein Handtuch geknotet. Auf dem Bett liegen schon Klamotten bereit, die Fothy mir wohl vorbeigebracht hat. Sie sind ausnahmslos weit geschnitten und alle aus weißer Baumwolle. Ich sehe aus wie ein indischer Landarzt mit dieser Aufmachung. Auf Krücken trete ich aus dem Zimmer und kraxele die Treppe hinunter. Bevor ich es höre, sehe ich es. Neben Fothy, Bez, Bernie und Doc stehen vier große Bildschirme im Wohnzimmer, die eine Liveübertragung aus der Baze zeigen. Als ich aufblicke, beginnen alle zu klatschen. Ein ohrenbetäubender Lärm entsteht zusätzlich durch die Jubelrufe. Ich kann nicht anders, ich muss lächeln. Ich strecke meinen Rücken durch und versuche so würdevoll wie möglich mit den Krücken auf die anderen zuzugehen. In diesem Moment schaltet sich der Fernseher hinter mir ein, der an der Wand im Treppenhaus hängt. Ich wirbele herum und vergesse meine Krücken. Auf dem Bildschirm erscheint Jaxx und klatscht ebenfalls. Jaxx! Mein Jaxx! Steht da und klatscht. Dann verbeugt er sich. Anscheinend wurde dieses Video in meiner Wohnung in der Baze gedreht, im Hintergrund sehe ich mein Sofa und den Bachlauf. Der Fernseher geht aus und ich drehe mich wieder herum zu den anderen. Aber anstatt dass sie mich anlächeln und mir sagen, wie stolz Jaxx auf mich wäre, starren sie geschockt auf die Wand hinter mir. Ebenso die Menschen, die live aus Malibu zugeschaltet sind. Das war also nicht geplant. Was war das dann? Ist Jaxx noch am Leben? Den Gedanken verwerfe ich schnell wieder, ich habe ihn schließlich aus nächster Nähe fallen sehen. Bernie ist der Erste, der wieder zu sich kommt. Er kappt alle Kabel zur Baze und schaltet die Bildschirme aus. Dann flitzt er los und holt einen Stuhl, auf den ich mich dankbar fallen lasse. Bez kommt neben mich. Er sieht mindestens so geschockt aus wie ich.


Victories (Buch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt