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Die Tage auf See sind in gewissem Maße sehr entspannend: Da wir nach einem Unwetter außer einem Satellitentelefon keine Verbindung zum Festland haben, fällt die Kommunikation mit der Baze flach. Wir haben selbstverständlich auch kein WLan, sind also komplett abgekapselt. Fothy, der nach der ersten Mahlzeit auf dem Boot seekrank ist, nennt unsere Situation ‚auf See verschollen'. Dass Bez am dritten Tag kurz mit einem Kontaktmann auf dem Festland spricht, ignoriert er dabei vollkommen. Als wir endlich im Hafen von Neapel einlaufen, rennt er als Erster die Gangway entlang und küsst den Boden. Später erzählt Doc mir, dass Fothys Seekrankheit vermutlich von den Tabletten herrührt, die er geschluckt hat. Er hatte die Tabletten gegen Reiseübelkeit ausgetauscht gegen eine leichte Mischung aus Brechwurz und Schokolade. Und zwar nur als Rache für die Ratte, die Fothy in Docs Arbeitszimmer angeblich ‚vergessen' hat. Wie dem auch sei, wir sind sicher angekommen und machen uns nun auf den Weg in Richtung Bologna. Bernie übernimmt jetzt mein Auto und ich fahre auf dem Rücksitz von Fothys überdimensioniertem Limousin mit. Für unseren Plan ist das unumgänglich, auch wenn es mir nicht gefällt. Immerhin habe ich hier Platz, um mich entsprechend zu verkleiden. Die fünf Stunden die wir für die Fahrt benötigen, verwende ich, um mich neu zu erschaffen. Meine Haare weichen mal wieder einer Perücke, sodass mir anstatt langer, brauner Haare jetzt kürzere blonde Locken über den Rücken fallen. Meine grünen Augen weichen blauen Kontaktlinsen und zuletzt verändere ich meine Gesichtsform durch das Aufbringen von kleinen Silikonpolstern minimal. Und obwohl der Wagen bei der Fahrt alles andere als erschütterungsfrei gelagert ist, sehe ich hinterher so aus wie Miss Clara Sophie Hunter aus Austin, Texas. Kurz bevor wir das Hotel erreichen, legen wir eine kleine Pause ein und Fothy überprüft mit seinem etwsa gruseligen scanner-Blick, ob ich der Frau auf dem Passbild tatsächlich ähnlich sehe, und er befindet meine Arbeit tatsächlich für gut. Jetzt heißt es nur noch, den texanischen Akzent zu lernen, was ich in der letzten halben Stunde mit Hilfe von Youtube-Videos erledige. Bologna erreichen wir schließlich kurz bevor die Sonne hinter dem Horizont verschwindet. In diesem undefinierbar schummrigen Licht halten wir vor dem Hotel, wo Bez und Bernie als Paparazzi verkleidet bereits auf mich warten und mich wie gestört fotografieren, als ich aus dem Auto aussteige und in der Lobby des Hotels verschwinde. Der erste Teil wäre damit erledigt: Die Menschen sind auf mich aufmerksam geworden und Bez und Bernies Blitzlicht haben sie psychisch so manipuliert, dass sie mich in dem Licht wahrgenommen haben, in dem sie mich sehen sollen. Die Lobby ist angenehm dunkel, aber hell genug erleuchtet, damit ich mich zurechtfinde. Fothy erscheint neben mir und macht sich auf den Weg zur Rezeption. Wie es abgesprochen war schnappe ich mir die kleinere Tasche, die Fothy neben mir abgestellt hat und verschwinde auf der Toilette. Das Gesicht wechsele ich nicht, dafür war es eine zu lang andauernde Arbeit, aber die Klamotten sind im Moment zu auffallend. Nachdem ich das auffällige Kleid gegen eine normale Hose und einen Kapuzenpulli getauscht habe, verlasse ich das Badezimmer wieder und husche, ohne von den Rezeptionisten bemerkt zu werden zu den Aufzügen und fahre in das Stockwerk, das Fothy mir per SMS mitgeteilt hat. Ich klopfe rhytmisch gegen die Tür der Baron-Suite und schlüpfe schnell hindurch, als Bez sie öffnet. „Das war nicht schlecht. Ich bin mir sicher, dass wir inzwischen entdeckt wurden", sagt Bernie nach einem Blick auf seine Uhr. „Wir haben absichtlich einen kleinen Fehler in den Pass von Clara Hunter eingebaut, sodass er spätestens an der Rezeption aufgefallen ist. Und jetzt denkt die Regierung, wir wüssten nichts davon und gingen davon aus, unentdeckt gereist zu sein." Es klopft ein weiteres Mal. „Außerdem haben wir sie", fügt Fothy hinzu, als er die Tür geöffnet hat und eine hochgewachsene, schlanke Frau das Hotelzimmer betritt. „Das ist beinahe nicht zu fassen", murmele ich und taste unbewusst nach meinem falschen Kinn. Die Frau uns gegenüber ist die echte Clara Sophie Hunter. „Wir haben ihre Identität schon lange in unserer Kartei vermerkt, weil sie eine Gegnerin des Systems ist und als solche von Nutzen sein könnte. Und hier haben wir auch schon den Beweis, dass dem tätsächlich so ist." Sie schüttelt mir die Hand und begrüßt mich freundlich, aber ich bekomme kein Wort über die Lippen. Was meine Stimmbänder stattdessen produzieren klingt ein wenig nach einem verdörrtes Elchgeröhre. Falls ich jemals auf jemanden neidisch werden sollte, ist Miss Hunter meine erste Wahl. Obwohl, genau genommen ist es für das ‚jemals' inzwischen zu spät. Sie sieht einfach perfekt aus: Ihre Haare schimmern, obwohl wir das Licht mit dicken Vorhängen aus der Suite verdrängt haben. Ihre Lippen und ihre Haut haben die gesündesten Farben, die ein Gesicht nur haben kann. Mal ganz abgesehen von den Beinen, für die jedes Model töten würde. Und im Gegensatz zu mir klingt ihre Stimme wie das klingeln tausend anmutiger Glocken. Ich bin offensichtlich nicht die Einzige, die sie anstarrt: Bernie und Doc erinnern sich erst in diesem Augenblick daran, ihre Münder wieder zu schließen. Auch Fothy sieht so aus, als hätte er seine persönliche Helena in diesem Moment gefunden. Nur Bez schaut sie unbeeindruckt an und wendet dann seine Aufmerksamkeit wieder dem Koffer zu, den er gerade ausgepackt hat. Um nicht noch die nächsten Minuten wie ein absoluter Vollidiot dazustehen, zwinge ich mein Gehirn, sich in Bewegung zu setzen. Vermutlich ein wenig kantig bewege ich mich auf sie zu und fordere sie auf, mit mir in das nächste Zimmer zu gehen. Da ich vorher nicht weiter darüber nachdenke bin ich froh, dass wir im Salon landen und nicht im Badezimmer. Das hätte nämlich durchaus passieren können. Trotzdem entwischt mir ein leises „Wow", als wir alleine sind. Clara lächelt geschmeichelt und setzt sich hin. Ich lasse mich auf eine Recamiere plumpsen und sitze da wie ein nasser Sandsack. Um meine wirren Gedanken endlich anzuhalten schüttele ich den Kopf. Das scheint tatsächlich zu funktionieren, denn kurz darauf kann ich wieder einiger Maßen klar denken. „Wie viel hat Fothy dir schon erzählt?" „Nicht viel, Majestät." Bevor sie weitersprechen kann, unterbreche ich sie mit einer Handbewegung. „Stopp. Einfach nur Victoria. Und bloß nicht siezen." Sie nickt und macht weiter: „Mir wurde gesagt, dass ich die Chance hätte, dem System ins Geschäft zu funken. Und dass ich eine echte Königin treffen würde. Nachdem ich zugesagt habe, kam ein Fahrer nach Austin um mich abzuholen und hat mich zu einem kleinen Flugplatz gebracht, von dem aus ich nach Zürich geflogen bin. Da wurde ich wieder mit einem Auto abgeholt und in das Hotel geschmuggelt. Und hier bin ich jetzt seit drei Tagen und warte auf weitere Informationen." Sie lächelt mich wieder an, als sie geendet hat und faltet ihre Hände. „Okay, dann mache ich einfach mal weiter. Deine Aufgabe ist eigentlich relativ einfach: Du musst in den nächsten Wochen im Hotel bleiben und ab und zu in die Stadt fahren. Unser Kontaktmann hier in Bologna wird auf dich aufpassen und dir sagen, wann du was genau tun sollst, den Ablaufplan hat er schon. Wichtig ist aber, dass du unantastbar bleibst. Du musst genau so agieren, wie ich es tun würde. Umgekehrt muss ich lernen, wie du lebst. Dafür haben wir nur einen Tag Zeit. Und ich muss das jetzt einfach loswerden: Ich bin jetzt schon total neidisch auf dich!" Den letzten Satz kann ich nicht mehr zurückhalten und beiße mir schon auf die Zunge, als ich das letzte Wort gerade ausgesprochen habe. Clara wird rot. „Ist dir aufgefallen, dass du genau so aussiehst wie ich im Moment?" Stimmt, da war ja was. Wo sie es gerade sagt, fällt es mir wieder ein und ich betaste erneut mein falsches Kinn. „Der einzige Unterschied ist unsere Ausstrahlung. Du wirkst sehr sicher und sehr mächtig auf mich. Ich habe den Eindruck, dass nichts dich erweichen kann. Nicht böse gemeint", fügt sie hinzu, als mein Blick für einen Moment kühler wird. „Ich bin einfach ungeübt und unsicher. Aber das ist es, was die meisten Männer toll finden. Überleg doch mal. Wenn du ein Mann wärst, würdest du dich für das schöne aber schüchterne Mauerblümchen entscheiden oder eher für die schöne und absolut ehrgeizige, ein wenig einschüchternde Frau?" Da ist in der Tat etwas dran. „So ehrlich hat mir das noch nie jemand gesagt." Sie erschrickt und zuckt ein wenig zusammen. „Aber ich bin sehr froh, das zu hören. Normaler Weise reden alle mit mir wie mit einem horrible boss. Und ich habe keine Ahnung, wieso." Einen Moment lang sitzen wir uns einfach schweigend gegenüber. „Okay, die Zeit läuft." Ich reiße mich von ihr los und gehe zurück in die Eingangshalle der Suite. Die anderen haben inzwischen alle Koffer ausgepackt und haben nur darauf gewartet, dass wir wieder aus dem Salon kommen. „Wir können beginnen." Bez schiebt alle Möbel an die Wand und schafft uns so eine große Freifläche, während Bernie seinen Laptop auspackt und irgendwelche filigran aussehenden Scanner so platziert, dass sie die Fläche genau in der Linse haben. Fothy tänzelt um uns herum und reicht Clara Schuhe, die meinen ähnlich sind, sodass wir sogar auf derselben Augenhöhe stehen. „Okay, wir beginnen mit einfachen Schritten. Victoria, würdest du bitte ganz normal laufen?" Inzwischen haben alle den Dreh heraus, wann sie mich mit Emilia ansprechen und wann mit Victoria. Ich persönlich bevorzuge meinen eigentlichen Namen, der erinnert mich daran, dass ich eine Vergangenheit habe und nicht einfach nur da war. Der Name ist in gewisser Weise mein Anker, der mich am Boden hält. Aber ich sollte mich auf meine Schritte konzentrieren. Ich laufe auf der Fläche ein wenig hin und her, sodass die Scanner meine Bewegungen aus allen Perspektiven erfassen können. „Das reicht. Clara, versuch es ihr nachzumachen." Ich stelle mich neben Doc an den Rand und schaue zu, wie sie ihre Schritte erledigt. „Das sieht so aus, als hätten sogar ihre Hausschuhe Absätze", kommentiert Doc ihre Versuche. Und ich kann ihm nur Recht geben: Selbst mit den flachen Schuhen scheint sie durch die Gegend zu stöckeln. „Das haben wir gleich." Fothy stellt sich hinter Clara und korrigiert ihre Haltung ein wenig, sodass ich schließlich protestieren muss: „Nie im Leben laufe ich wie ein Buckelwal herum!" Fothy grinst mich schelmisch an und zeigt Clara die korrekte Position. Bez wohnt der Prozedur wohl nur physisch bei, sein Blick geht ins Leere. Einen Augenblick spiele ich mit dem Gedanken, zu ihm herüber zu gehen und mit ihm zu sprechen, aber ich bezweifle, dass er mit mir sprechen möchte. Natürlich kann ich ihn verstehen. Aber ich scheine Jaxx Tod besser verkraftet zu haben als er die räumliche Trennung von mir. Bevor ich zu sehr in meinen Gedanken versinken kann, stupst Fothy mich an und bedeutet mir, in ein paar Stöckelschuhe zu schlüpfen. „Wir sind mit Clara fertig." Entgeistert starre ich aus dem Fenster, durch das inzwischen kein Lichtstrahl mehr scheint. Ich habe mindestens zwei Stunden einfach nur dagestanden und nichts getan. „Doc, woran erkennt man einen Schlaganfall?"


Victories (Buch 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt