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„Wo steckt denn der?"
Diese Frage hatte sich Thiel heute nicht zum ersten Mal gestellt.
Ursprünglich waren Boerne und er verabredet gewesen, gut, eigentlich hatte Boerne ihm angeboten, ihn mit zur Arbeit zu nehmen, doch als Thiel morgens bei ihm klingelte, war aus der benachbarten Wohnung nichts zu hören.

„Frau Haller ist noch nicht im Institut und Boerne geht auch nicht 'ran. Ich dachte Sie sind mit ihm zur Arbeit gefahren?"
Thiel schüttelte den Kopf.
Wäre er gerne, ist er aber nicht.
„Der soll mir ins Präsidium kommen, dann ist's aber zappenduster, das sag ich Ihnen."
Warum Thiel so schimpfte, wusste er nicht, aber prinzipiell fühlte er sich danach halt einfach besser.

Während Nadeshda ein paar Telefonate erledigte, setzte sich Thiel mit seiner Tasse an den Schreibtisch und gönnte sich ein paar Schlücke seines Kaffees, für welchen er zu Hause keine Zeit mehr hatte.

Gestern, am späten Abend, hatte er noch die Zusammenfassung der Sportschau geschaut, weshalb er am Morgen einfach nicht aus dem Bett gekommen war.
Wieder gab er Boerne die Schuld, der im Prinzip nur indirekt damit etwas zu tun hatte.
Er und Thiel hatten sich ursprünglich abends zur Fallbesprechung treffen wollen, doch wie sich gegen halb neun gezeigt hatte, war Boerne gar nicht zu Hause.
Thiel war nicht sonderlich verwundert darüber, denn wenn Boerne nicht zu Hause war, bedeutete es meistens nur, dass er sich wieder irgendwo wichtig machte oder vermutlich eine Operette besuchte.
Naja, irgendwie hatte es Thiel ja schon gestunken, dass der Forensiker ihn für irgendwas, noch schlimmer, für irgendwen versetzt hatte, doch was hätte es auch gebracht, sich da hineinzusteigern? Eigentlich war er nur deshalb so wütend, weil der Pathologe nicht mal Bescheid gegeben hatte. So viel zum Thema Anstand.

Das Boerne ihn nur als Kollegen betrachtete, dass war Thiel sowieso klar, weshalb er auch nie den Versuch unternommen hatte, etwas an ihrer Beziehung oder was auch immer zu ändern. Es war nicht so, das er sich nicht mehr gewünscht hätte, doch die Vernunft war stärker und warum sollte er die Freundschaft gefährden, in dem er sich dem anderen offenbarte? Dafür gab es wohl auch keine logische Erklärung, fand zumindest Thiel. Abgesehen davon, weigerte er sich ja immer noch dagegen, anzunehmen, dass er in den Professor verliebt war. Totaler Blödsinn.

Nach dem Thiel seine Tasse geleert hatte, fühlte er sich einigermaßen auf dem Damm und fuhr mit Nadeshda eine Zeugin befragen. Diese war allerdings nicht zu Hause gewesen, weshalb der Hauptkommissar noch muffiger wurde, als er ohnehin schon war.
„Man Chef, was ist Ihnen denn für eine Laus über die Leber gelaufen? Heute sind Sie ja besonders gut gelaunt."
„T'schuldigung!"

Dass er seine schlechte Laune an Nadeshda ausgelassen hatte, tat ihm dann aber schon Leid, weshalb er sich vornahm, dass ganze bei einem späteren Mittagessen wieder gut zu machen.

Während seine Kollegin den Wagen in Richtung des Präsidiums lenkte, klingelte Thiels Handy.
Natürlich war es sein Handy, war er doch der einzige, der 'Auf der Reeperbahn, nachts um halb eins' als Klingelton hatte.
„T'schuldigung! Aha. Boerne! Wurde ja auch mal Zeit! ", unterbrach er Nadeshda, die gerade von ihrem gestrigen Feierabend erzählte und nahm das Gespräch entgegen.

„Thiel."
„Hallo Herr Thiel. Hier ist Frau Haller. Sagen Sie, ist der Chef bei Ihnen?"
Jetzt war der Kommissar doch perplex, denn mit Haller hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Zumal diese aus Boernes Büro anrief.
„Nö! Boerne ist nicht hier. Ich dachte der wäre längst im Leichenbunker!"
„Der sollte seit 9 Uhr eine Vorlesung in der Uni halten, aber da war er nicht. Ich dachte es gab einen Mord und er wäre bei Ihnen."

Bei ihm, wie das klang, dachte Thiel frustriert. Wie sich das auch schon anhörte, als ob er und Boerne... Thiel schüttelte den Kopf.

„Ich hab ihn heute noch nicht gesehen. Gestern Abend schon nicht."
Schlagartig wurde der Kommissar etwas blass um die Nase und deutete anhand einer Geste an, dass Nadeshda anhalten sollte.
„Und in der Uni ist er sicher nicht?"
„Nein, Paula, also eine Studentin, war eben bei mir und hat sich nach ihm erkundigt."
Das war aber schon seltsam, dass musste Thiel sich eingestehen.
Auch wenn er sicher war, dass es hierfür eine ganz simple Erklärung geben würde, manövrierte er Nadeshda nach dem Telefonat direkt in Richtung forensisches Institut.
„Ist was nicht in Ordnung, Chef?"
„Boerne ist weg."
„Wie weg?"
„Ja weg halt. Weiß ich doch nicht. Der ist nicht im Institut und bei seiner Vorlesung ist er nicht erschienen. Nun fahren Sie schon."

Das er Nadeshda schon wieder angemotzt hatte, fiel ihm gar nicht erst auf, denn in seinem Kopf begann es direkt zu arbeiten.
Eigentlich gab es für Boernes 'nicht Dasein' nur zwei logische Erklärungen. Entweder der Professor hatte gestern einen über den Durst getrunken und schlummerte noch friedlich im Bett oder ihm musste etwas zugestoßen sein. Anders konnte Thiel sich das wirklich nicht erklären. Immerhin war Boerne der pflichtbewussteste Mensch den der Kommissar kannte. Bei dem Professor gab es kein 'blau machen', nein, er war immer da.
Thiel versuchte sich zu erinnern, wann Boerne einmal krank war, doch so recht konnte er sich daran jetzt gar nicht entsinnen.

****

„Ich kann mir das überhaupt nicht erklären. Der ist doch sonst immer so zuverlässig.", brachte Nadeshda den Einwand, nachdem Silke Haller ihnen nochmals genau berichtete, dass Boerne eben weder hier noch bei der Vorlesung erschienen war.
Gerne hätte es sich Thiel nicht anmerken lassen, aber auch ihn machte die ganze Angelegenheit nervös und er überlegte fieberhaft, ob das Auto vom Pathologen vor dem Haus stand, als er gegangen war.
So sehr er sich auch bemüht hatte, es wollte ihm einfach nicht einfallen.

„Der wurde bestimmt entführt. Oh Gott! Was ist wenn man ihn - umgebracht hat?"
Thiel rollte mit den Augen und legte seine Hand an Hallers Schulter.
„Glauben Sie mir, den entführt niemand freiwillig und wenn doch, gibt derjenige nach ein paar Stunden mit Boerne freiwillig auf."
Eigentlich war es lustig gemeint, Nadeshda und Frau Haller lachten ja auch, aber Thiel selbst konnte sich nur ein müdes Lächeln abringen.

„Mailbox, immer noch.", kam es eine viertel Stunde später von Nadeshda.
Thiel, Haller und Nadeshda saßen in Boernes Büro und hatten versucht zu überlegen, was hinter der Sache stecken könnte. Eine Lösung hatten sie nicht gefunden, dafür hatten sie einen Kaffee getrunken, welchen der schlecht gelaunte Thiel wirklich nötig hatte.
„Ich würde vorschlagen, dass Sie Frau Haller hier mal die Stellung halten und sich unverzüglich melden, wenn er auftaucht. Nadeshda? Wir fahren jetzt zu Boernes Wohnung und sollte uns auch nur eine Kleinigkeit spanisch vorkommen, dann geben wir eine Fahndung raus!"

Im Rausch der VergeltungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt