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Aufgeregt ging Thiel auf den Arzt zu.
„Herr Professor Boerne ist in einem stabilen Zustand. Meine Kollegen untersuchen ihn noch. Sie können zurück in ihr Zimmer oder hier draußen noch einen Augenblick warten."
Thiel nickte. Für ihn stand fest, dass er hier blieb und wartete, bis die Ärzte sich ausreichend um seinen Nachbarn gekümmert hatten.
„Sie zittern ja.", meinte der Arzt, als Thiel sich auf den Stuhl fallen ließ und seinen halb vollen Becher in den Händen hielt.
„Soll ich Ihnen etwas zur Beruhigung geben?"
Eigentlich hielt Thiel davon überhaupt nichts, doch auch wenn er nicht damit rechnete, dass ihm eine bunte Pille helfen würde, entschied er sich trotzdem dafür.
„Schön, dann bringt Schwester Susi Ihnen gleich etwas. Sollen wir irgendwen anrufen?", fragte der Arzt fürsorglich.
„Ich weiß nicht. Wie spät ham' wir's denn?"
„Halb vier."
„Naja vielleicht erreichen Se' ja Boernes Schwester. Für seinen Onkel is' es schon 'n büschen früh."

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Gute zwanzig Minuten später, hätte Thiel dann die Tablette genommen und gegen jede Annahme, wurde er wirklich etwas entspannter. Aufgeregt war er aber trotzdem noch, aber wer konnte ihm das in dieser Situation verdenken?
„Wir haben der Schwester aufs Band gesprochen, Herr Thiel.", teilte Susi, die Nachtschwester mit.
„Geht's Ihnen jetzt besser?"
Thiel begann zu nicken und lächelte sie mit einem halben Lächeln an.
„Alles okay bei... meinem Hasen?"
Konnte ja nicht Schaden, extra dick aufzutragen, rechtfertige sich der Kommissar vor sich selbst.
„Ja, aber er hat schmerzen, weshalb die Ärzte ihm noch ein paar Infusionen verabreichen."
„Aber ich dachte der hat dieses Rückenmarksteil."
Das war doch seltsam, normal dürfte der das doch gar nicht spüren oder? Thiel wurde stutzig.
„In der Tat, aber er hat schmerzen im Arm. Die Kugel war aber auch wirklich nicht einfach zu entfernen, was ich so in den Unterlagen gelesen habe."
Thiel nickte und atmete durch. Wenigstens tat dem Anderen der Bauch und die restlichen Verletzungen nicht weh.

****

Als auch der letzte Arzt aus dem Zimmer ging und Thiel eine eindeutige Geste zukommen ließ, dass er ins Zimmer gehen konnte, schlug sein Herz wieder fest gegen seine Brust.
Gleich würde er Boerne sehen und er ihn. Naja, vorausgesetzt sie hätten den Pathologen nicht so zugedröhnt, dass der bereits wieder schlief.
Langsam und mit schweißnassen Händen betrat Thiel das gemeinsame Zimmer und wagte es nicht, den Türrahmen zu überschreiten.
Vorsichtig linste er zu Boerne, der mit dem Oberkörper aufrecht gestellt im Bett lag und seine Augen geschlossen hatte.
Etwas geknickt war Thiel jetzt schon, weil er so gerne die grünbraunen Augen gesehen hätte, doch er wusste ja, dass er sie spätestens morgen zu Gesicht bekommen würde. Eher heute, als morgen, fiel es Thiel ein, denn es war ja schon fast morgens.
Einmal noch atmete der Hauptkommissar durch, dann setzte er sich auf den Stuhl neben Boerne und schloss einen Moment die Augen.
Es war so irreal, dass Boerne tatsächlich wieder bei Bewusstsein war, auch wenn der ganz offensichtlich schlummerte.
Da fiel Thiel wieder ein, dass er Haller ein Versprechen gegeben hatte, weshalb er sein Handy heraus nahm und gegen jede Gewohnheit eine SMS an sie schrieb. Thiel fand, dass dies fürs Erste genügen musste, denn natürlich stand es außer Frage, dass Boerne jetzt viel Ruhe brauchen würde.
Nachdem er sein Handy in die Hosentasche geschoben hatte, blickte er wieder zu Boerne und zuckte erschrocken zusammen, als dieser langsam mit den Lidern zuckte und ihn plötzlich zwei moosgrüne Augen anblickten. Es war nicht lange, nur ein kurzer Moment, doch dass reichte Thiel um zu wissen, dass das Schlimmste überstanden war.
„Thiel.", flüsterte Boerne schwach und ziemlich leise.
„Moin Herr Professor."
Thiels Mundwinkel zuckten nach oben und er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Boerne erkannte ihn, er erkannte ihn tatsächlich. Vermutlich gab es keine Worte dafür, um beschreiben zu können, wie froh Thiel darüber war.
„Ich...", doch weiter konnte Boerne nicht sprechen. Höchstwahrscheinlich hatte er keine Kraft dazu und außerdem klang seine Stimme rau und heißer.
Immer wieder zuckten Boernes Lippen, worauf er schloss, dass der Professor durstig sein musste. Da der aber natürlich noch seine Sonde hatte, tauchte Thiel einen neuen Lolly in den Wasserbecher und hielt ihn Boerne vor den Mund, der ohne mit der Wimper zu zucken, diesen leicht öffnete.
Damit hatte Thiel so gar nicht gerechnet, doch anscheinend wusste Boerne was er damit wollte und es dauerte nicht lange, bis der Pathologe ein wenig daran saugte.
„Mehr?", fragte Thiel und Boerne nickte schwach. Ein paar Mal wiederholten sie das ganze Prozedere, ehe Boerne die Augen schloss und ein Mundwinkel nach oben ging.
„Da...Danke.", flüsterte er leise und Thiel fühlte sich unendlich erleichtert.
„Nicht der Rede wert."
Während Boerne langsam einzuschlafen schien, hatte Thiel große Mühe, seine Fassung zu bewahren. Immer und immer wieder tauchte der Klos in seinem Hals auf, welchen er kontinuierlich versuchte herunter zu schlucken.
„Ich geh ins Bett Boerne. Sie brauchen Ihren Schlaf."
Als Thiel sich aus dem Stuhl erhob und sich dabei mit den Händen auf der Matratze abstützte, lag plötzlich die Hand des Professors auf seiner.
„Nicht....Bi...Bitte.", raunte Boerne fast stumm, doch Thiel hatte es genau verstanden und begann zu Lächeln.
„Verstehe."
Somit setzte er sich wieder auf den Stuhl, legte seine Hand auf Boernes, die wiederum auf seiner anderen lag und umschloss sie nun.
„Schlaf ruhig. Ich bin da."
Oh man, jetzt hatte Thiel ihn doch geduzt, dass war genau das, wovor er sich schon gefürchtet hatte, dass ihm genau das passieren würde. Das konnte in den nächsten Tagen und Wochen ja noch heiter werden, davon war er felsenfest überzeugt.
Kaum sichtbar, für Thiel dennoch spürbar, streichelte Boernes Daumen seinen Handrücken und genau diese Geste, stimmte ihn zuversichtlich, optimistisch und fröhlich. Boerne war zurück, wenn auch sehr schwach, aber er lebte und er erkannte Thiel. Mehr brauchte der Kommissar nicht zu wissen, denn dass war alles, was er sich gewünscht und worum er gebetet hatte.

Im Rausch der VergeltungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt