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„Was ist passiert?", fragte Gustav, nachdem unzählige Minuten vergangen waren, in denen sie sich weinend in den Armen gehalten hatten.
„Ich hab nicht aufgepasst auf ihn. Ich hab einfach nicht aufgepasst.", schluchzte Thiel und drückte seinen Kopf an die Brust des Onkels.

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„Wollen wir ein Stück gehen?", fragte Gustav, als sich beide Männer etwas beruhigt hatten.
„Ich glaub nicht, dass ich schon soweit laufen kann."

Gustav dirigierte Thiel deshalb zurück in den Rollstuhl und schob ihn in die Cafeteria.

Mit zwei Bechern Kaffee in den Händen, ließ sich der Kommissar etwas später widerwillig in den Park des Krankenhauses fahren und Gustav hielt schließlich an einer Bank.

„Bitte erzähl mir was passiert ist Frank."
Thiel reichte Gustav den Kaffee und umfasste seinen eigenen Becher dann mit beiden Händen. Schweren Herzens atmete der Kommissar durch und erzählte seinem Gegenüber die ganze Geschichte und natürlich auch, dass er vermutlich an dem ganzen Desaster nicht unschuldig gewesen war.
„Aber das ist doch Blödsinn Frank. Du kannst dir doch da keine Schuld geben. Du warst arbeiten und hast danach etwas eingekauft. Das ist doch völlig normal und Karl-Friedrich ist alt genug, dass er keinen Babysitter mehr braucht.", meinte Gustav und nippte an seinem Becher.
Thiel musste einsehen, dass der gute alte Gustav wohl schon recht damit hatte, denn wer konnte schon ahnen, das so etwas passieren würde? Eigentlich könnte sowas ja auch immer und überall passieren, vielleicht sogar ihm.

Thiel erinnerte sich, dass auch er schon mal eine Menge Dusel gehabt hatte, als der verrückte Typ, welcher sich 'der Hammer' nannte, nachts plötzlich in seinem Schlafzimmer stand und ihn mit den Handschellen ans Bett gefesselt hatte.

„Es tut einfach weh, dass man nur zuschauen kann und nicht weiß, ob's nochmal wird.", äußerte Thiel seine Bedenken, die ihm nun überhaupt nicht zu verdenken waren.
„Karl-Friedrich ist ein kleiner Kämpfer. Der hat sich noch nie unterkriegen lassen, egal was andere von ihm dachten oder über ihn gesagt haben. Er nimmt sich was er will, tut das worauf er Lust hat und er verfolgt stets seine Ziele und Prioritäten. Okay, die setzt er manchmal vielleicht an falschen Stellen, aber ich bin mir ganz sicher, dass er das schafft. Ihr beide schafft das - Zusammen. Ich bin so froh, dass Karl-Friedrich dich an seiner Seite hat. Endlich hat er jemanden gefunden, der sich getraut hat, hinter seine Fassade zu blicken und ihn so zu lieben und schätzen weiß, wie er es verdient hat."
Schlagartig wurde es Thiel heiß und kalt.
Vor all der Aufregung, hatte er tatsächlich vergessen, dass Gustav ja noch immer im Glauben war, dass er und Boerne ein Ehepaar waren.

Scheiße! Das war doch jetzt richtige Scheiße.

Da Thiel nicht wusste, was er darauf sagen sollte, lächelte er so halb in Gustavs Richtung und nahm anschließend einige Schlucke von seinem Kaffee.

Wäre das jetzt nicht der richtige Zeitpunkt Gustav über die erfundene Ehe aufzuklären? Sollte Thiel ihm gegenüber vielleicht ehrlich sein und die ganze Angelegenheit beichten?
Er wusste es nicht.

„Ich finde es so faszinierend, wie ihr zwei euch ergänzt. Du bist so unglaublich bescheiden, introvertiert, bodenständig, eigentlich das komplette Gegenteil von Karl-Friedrich. Sowas schafft nur die Liebe. Sie bindet das, was zusammen gehört, auch wenn sie manchmal komische Dinge mit einem anstellt, nicht wahr Frank?

Thiel war sich jetzt sicher, dass er Onkel Gustav nicht die Wahrheit sagen würde. Boerne würde ihm die Augen auskratzen, wenn er erfahren würde, dass Thiel ausgeplaudert hatte, dass Boerne nur alles inszenierte, weil der davon ausgegangen war, Gustavs Haus in Florida zu erben.

„Naja, man kann sich's nicht immer aussuchen. Boerne ist wirklich das komplette Gegenteil von mir, aber deswegen passt's scheinbar auch so gut.", meldete sich Thiel dann doch endlich mal zu Wort.
„Na das will ich doch meinen. Du musst ihm jetzt einfach Kraft geben und ihm zur Seite stehen. Der spürt deine Anwesenheit, glaub mir das."

Sollte Thiel ihm vielleicht besser sagen, dass er nicht in das Zimmer durfte? Immerhin war das nur für Angehörige erlaubt und Thiel war nun einfach mal kein Angehöriger.
Gut, für Onkel Gustav ja schon, aber nicht für den Rest der Welt, der eben die Wahrheit kannte.

„Seine Schwester besucht ihn ab und zu und ich bin mir sicher, dass es ihm gut tun wird, wenn du auch da bist.", entgegnete Thiel, weil er einfach nicht wusste, was richtig und falsch war.
Irgendwie zweifelte er jetzt doch wieder daran, ob es klug war, Gustav länger zu belügen.
Was, wenn Boerne starb? Könnte er Gustav dann überhaupt noch einfach so die Wahrheit erzählen, ohne dass dieser nicht wütend auf ihn wäre? Vermutlich nicht.
Boerne wird aber nicht sterben, sagte sich Thiel und atmete hörbar auf.

****

Eine ganze Weile hatten die Männer geschwiegen und die Enten beobachtet, welche auf dem kleinen Teich freudig hin und her schwammen.
„Und du hast Karl-Friedrich eine Niere gespendet?", unterbrach Gustav die angenehme Stille.
„Mhhm, logisch. Kann ja nicht zulassen, dass meinem Pussibärchen noch schlimmeres passiert."
Thiel biss sich auf die Zunge um nicht lauthals loszulachen. So hatte er Boerne schon mal vor Gustav genannt, weshalb der Rechtsmediziner total in Verlegenheit geraten und rot angelaufen war.
Boerne hatte es damals ja auch provoziert, erinnerte sich Thiel und begann zu Lächeln.

„Es tut so gut zu wissen, dass du an seiner Seite bist. Ich war zwar wirklich erstaunt, als Karl-Friedrich mir erzählte, dass er sich auf seine alten Tage doch endlich noch geoutet hat, aber so begeistert, wie er mir von dir erzählt hatte, wusste ich gleich, dass du ein ganz besonderer Mensch sein musst."
Nun war es Thiel der bis hinter beide Ohren rot anlief und sich verlegen durch die Haare strich.
Eigentlich hätte er Gustav jetzt noch gerne gefragt, wie er das meinte, also das mit dem Outing, doch da war der ältere Mann schon von der Bank aufgestanden und schob Thiel wieder zurück in die Klinik.

Vielleicht war es auch besser, das nicht zu hinterfragen, denn es hätte mit Sicherheit den Anschein gemacht, dass Thiel dann eben doch nicht alles von seinem angeblichen Ehemann wusste.

Im Rausch der VergeltungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt