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Das Gespräch mit Haller hatte Thiel wieder deutlich gezeigt, welches Wunder hier eigentlich passiert war.
Wie viele Schutzengel musste der Professor denn eigentlich gehabt haben, dass er jetzt „nur" hier lag und nicht in seinen eigenen Katakomben?

Thiels Herz klopfte und wieder zog sich sein Magen krampfend zusammen.
Das war doch nicht mehr auszuhalten.

Er lag hier im Bett, unweit von Boerne entfernt und konnte nichts für ihn tun. Alles hätte er dafür gegeben, um neben dem Professor sitzen zu können und einfach da zu sein.
Das Gustav wenigstens bei ihm war, das tröstete Thiel ungemein, auch wenn er gerne an seiner Stelle gewesen wäre.

Der Kommissar schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank einen winzigen Schluck davon. Der Wunsch Boerne zu sehen, wurde immens groß und so entschied er sich kurzerhand, wieder seinen ungeliebten Platz vor Boernes Zimmer anzupeilen, um ihn wenigstens aus der Ferne betrachten zu können.
Vielleicht spürte der andere ja irgendwie trotzdem, dass Thiel an ihn dachte und für ihn da war?!

Da er so überhaupt keine Lust auf den nervigen Rollstuhl hatte, entschied er sich dazu, diesen zwar mitzunehmen, aber nur zu schieben. Unter keinen Umständen wollte er auf dieses grässliche Ungetüm weiter angewiesen sein und machte es sich zur Aufgabe, jede Möglichkeit zu nutzen, um sich die Beine zu vertreten, damit er schnell wieder auf dem Damm war.

Als Thiel dann vor der großen Glasscheibe ankam, setzte er sich in den Rollstuhl.
Doch nicht so unpraktisch, dachte Thiel und guckte in Boernes Zimmer.
Gustav saß an Boernes Bett, hatte einen Mundschutz, sowie einen Kittel an und hielt die Hand seines Neffen.
Warum der so komische Sachen trug, wusste Thiel nicht so genau, aber die Ärzte hatten dafür bestimmt triftige Gründe.

Thiels Anwesenheit blieb dem Erbonkel jedoch nicht lange verborgen, denn plötzlich erhob dieser seine Hand und winkte ihm mit traurigem Gesicht zu.
Zaghaft erwiderte der Kommissar den Gruß und wünschte sich augenblicklich, jetzt neben Gustav sitzen zu können und gemeinsam für Boerne da zu sein.

Todunglücklich schloss Thiel seine Augen und betete zu Gott, dass doch noch ein weiteres Wunder geschehen würde. Eigentlich hoffte er auf eine Vielzahl von Wundern, wobei ihm eines für den Anfang vollkommen genügen würde.

„Frank, warum kommst du nicht rein?", erklang Gustavs Stimme neben ihm.
„Ich, ähm..."
Na super, was sollte er denn jetzt bitte sagen, ohne dass er ihm reinen Wein einschenken musste?
„Ich darf nicht rein.", entschied er sich zu sagen, was hätte er auch anderes erzählen sollen?
„Wenn du nicht rein darfst, wer sonst? Du bist sein Mann!"
Thiel zuckte mit den Schultern und hob beide Augenbrauen an.
„Das wissen die nicht. Wir haben das doch nicht offiziell gemacht und ich glaube, ich bin dir da noch eine kleine Erklärung schuldig."
Nervös knetete er seine Hände, während ihn Gustav neugierig beäugte.
„Wir haben nicht in Deutschland geheiratet, also demnach ist unsere Ehe hier nicht anerkannt.", log Thiel, weil es das Erste war, war ihm gerade in den Sinn kam.
„Ach jetzt wird mir so einiges klar. Deshalb wusste dein Vater nichts davon und ihr habt das alles aus dem Grund geheim gehalten. Eigentlich echt romantisch.", meinte Gustav schmunzelnd und Thiel war froh, dass dieser seine kleine Notlüge glaubte.
„Ich wusste gar nicht, dass Karl-Friedrich so ein Temperament an den Tag legen kann und mit dir nach, ich nehme an, Las Vegas geflogen ist, um dich zu heiraten."
Las Vegas? Naja, warum denn auch nicht, dachte Thiel und nickte ihm bejahend zu.
„Aber auch als Lebensabschnittsgefährte oder wie sich das hier in Deutschland schimpft, solltest du das Recht haben, neben ihm zu sitzen. Karl-Friedrich braucht dich dringender als mich und Hanne. Ich werd mal mit den Ärzten sprechen."
Thiel riss entsetzt die Augen auf und fuchtelte wild gestikulierend mit den Händen herum.
„Ach Quatsch, das müssen wir hier ja nicht breit treten. Ich weiß nicht ob das Boerne.." Thiel räusperte sich „... also ob das KF gefallen würde, wenn man ihn so übergeht.", brachte Thiel seine Bedenken endgültig auf den Punkt.
Während er noch darüber nachdachte, wie ungewohnt er es fand, dass er Boerne gerade KF genannt hatte, rauschte Gustav auch schon auf einen Arzt zu, der gerade die Intensivstation betreten hatte.

Beschämt und voller schlechtem Gewissen, versank Thiel tief in seinem Rollstuhl und hielt sich die Hände vor's Gesicht.
Ging es vielleicht noch etwas peinlicher? Gustav würde doch jetzt nicht wirklich heraus posaunen, dass Thiel schwul und mit dem Professor in einer Beziehung war oder?

„Oh Herr Thiel, das tut mir jetzt aber aufrichtig Leid. Entschuldigen Sie bitte vielmals. Wenn wir gewusst hätten, dass Sie und Herr Professor Dr. Boerne ein Paar sind, dann hätten wir sie doch zu ihm gelassen."
Thiel starrte den Arzt mit offenem Mund an, welcher auf ihn zugekommen war und ihm entschuldigend die Hand entgegenstreckte.
„Konnten Se' ja nicht wissen.", räusperte sich Thiel verlegen und hoffte, dass er nicht gerade wie eine überreife Tomate aussah.
„Warum haben Sie uns das denn nicht schon eher gesagt?"
„War mir halt 'n büschen peinlich.", stammelte Thiel und sein verlegenes Gehabe, unterstrich seine Aussage ungewollt bestens.
„Ich bitte Sie nur, dass sie nach Möglichkeit einzeln hinein gehen. Ein paar Minuten zu zweit lasse ich durchgehen, aber bitte nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Herr von Elst kann Ihnen bestimmt die Vorsichtsmaßnahmen erklären. Ich muss leider dringend in den OP."

Fassungslos blickte Thiel dem blonden Arzt hinterher und konnte nicht fassen, dass er gerade tatsächlich den Freifahrtschein bekommen hatte, um Boerne endlich aus der Nähe sehen zu dürfen.
„Man muss nur reden mit den Leuten Frank. Glaub mir, wenn man sich erstmal traut, zu seinen Gefühlen zu stehen und zu dem was man ist, dann fühlt man sich gleich zwanzig Jahre jünger."

Im Rausch der VergeltungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt