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*~*

Hallo Frank.
Ich weiß, der Morgen ist ein wenig unglücklich gelaufen, aber ich hoffe, dass zwischen uns alles in Ordnung ist. Von meiner Seite her ist es das jedenfalls.
Ich möchte wirklich nicht mit dir streiten, auch wenn es nicht gerade sehr nett von dir war, wie du mit mir gesprochen hast.
Dass dein werter Herr Papa dich auf die Palme gebracht hat, dafür konnte ich wirklich nicht sehr viel. Ausnahmsweise, ich weiß. ;-)
Wie dem auch sei....
Ich wünsche dir noch eine geruhsame Nacht.

Ps. Bitte trink nicht so viel Bier! ;-)
Dein Abdominalfett wird es dir danken.

Beste Grüße, KF.

*~*

Wie oft Thiel diese Nachricht in den letzten drei Tagen gelesen hatte, konnte er schon gar nicht mehr nachvollziehen. Sicher war jedoch, dass er sie mindestens einmal pro Stunde öffnete, als wolle er überprüfen, ob sie überhaupt noch existierte.

Boerne hatte ihm diese SMS geschrieben, noch genau an dem Abend, als Thiel vor seiner Wohnungstür gesessen hatte und sich eingestehen musste, dass er sich in den grünäugigen Gerichtsmediziner verliebt hatte.
Sein Herz hatte extrem geklopft, als er diese Zeilen gelesen hatte, doch so recht wollten seine Finger an diesem Abend keine Antwort mehr formen. Schließlich hatte er sich dann vorgenommen, die Nachricht am nächsten Tag zu beantworten, doch da hatte ihn dann irgendwie der Mut verlassen.
Im Grunde hätte ja eine einfache Antwort ausgereicht, doch da er viel zu durcheinander war, wollte er lieber gar nichts antworten, damit er sich nicht irgendwie verdächtig gemacht hatte. Vermutlich war aber genau das jetzt noch verdächtiger, denn er hatte ja bis heute nicht zurück geschrieben, geschweige denn, sich nochmal im Krankenhaus blicken lassen.
Drei-, vielleicht viermal hatte Boerne versucht ihn telefonisch zu erreichen, doch jedes Mal, als die Melodie 'Auf der Reeperbahn nachts um halb eins' ertönte, hatte Thiel sein Handy für eine ganze Weile ausgestellt.
Das sein Verhalten kindisch, ja geradezu affig war, dass wusste er und trotzdem konnte er sich nicht dazu durchringen, auf den Professor zuzugehen und ihm unter die Augen zu treten.
Vermutlich war das Kind sowieso längst in den Brunnen gefallen und Boerne garantiert zu tiefst beleidigt, aber mit dem Gedanken hatte sich Thiel ebenfalls schon angefreundet, naja, zumindest abgefunden.
Lieber wollte er nie wieder mit Boerne sprechen, als ihm erklären zu müssen, weshalb er sich so von ihm distanziert hatte.
Verstehen würde das der Andere ja sowieso nicht und eine Alberich, die ihn belächelte und eine Frau Staatsanwalt, die sich kringelte wenn Boerne ihr davon erzählen würde, brauchte Thiel halt wirklich nicht.
Vermutlich würde Boerne ihn nicht einmal mit Absicht bloßstellen. Nein, ihm würde versehentlich heraus rutschen, dass Thiel auf ihn stand, weil es seine selbstgefällige Art gar nicht anders zu lassen würde.
So, sagte sich Thiel, war es am vernünftigsten und wenn niemand von seinen Gefühlen erfuhr, dann gab es für ihn auch nichts zu befürchten.
Er und Boerne könnten auch in Zukunft weiter zusammen arbeiten, keiner würde etwas mitbekommen und da Boerne ihn privat garantiert ignorieren würde, wäre das Thema sowieso für alle Zeit vom Tisch.

****

„Was ziehen Wir denn für ein langes Gesicht, Boerne?", fragte Uli, die sich gerade am Verband des Forensikers zu schaffen machte.
„Das wüssten Sie jetzt gerne, was?"
„Das wüsste ich nicht gerne, dass weiß ich eigentlich auch so schon!", entgegnete Uli und sprühte etwas Desinfektionsmittel auf die Narbe, von welcher gestern die Fäden entfernt wurden.
„Ach und warum fragen Sie dann, wenn Sie angeblich wissen, welche Laus mir über die fehlende Niere gelaufen ist?"
Sichtlich amüsiert, wischte Uli mit dem Tupfer über die Wundfläche und warf diesen dann in den Abwurf.
„Die Laus heißt Frank und Ihnen stößt es mächtig auf, dass er gerade nicht kommt. Warum eigentlich?"
„Ich wüsste nicht, was es Sie angeht."
Boerne schüttelte den Kopf.
Was mussten Frauen auch immer so neugierig sein? Da war ihm der untersetzte Thiel um Längen lieber. Der war zwar meist recht reserviert und desinteressiert und wenn er ehrlich war, bestanden ihre Konversationen eher aus Monologen seitens des Professors, aber dass war für ihn und ebenso für Thiel eigentlich immer in Ordnung gewesen.
„Entschuldigen Sie, Uli, das war nicht in Ordnung."
„Lassen Sie mal gut sein, Herr Professor. Soll ich vielleicht mal mit ihm sprechen?", fragte die kleine Schwester, welche tatsächlich noch pummeliger als Thiel war.
„Ich habe es verbockt, um es mal in Franks Wort Jargon auszudrücken. Da bringt es reichlich wenig, wenn Sie sich auch noch einmischen, zumal Sie nicht die leiseste Ahnung haben, in welch verfahrener Zwickmühle wir uns eigentlich befinden."
„Das glauben auch nur Sie, mein liebes Professörchen."
Gerade wollte Boerne sich die Frechheit verbitten, dass Uli ihn als Professörchen betitelte, doch da fuhr sie schon fort.
„Karl-Friedrich, ich bin wirklich nicht von Dummbach. Mag sein, dass ich nur Krankenschwester bin und keine Ärztin, aber einen gesunden Menschenverstand habe ich durchaus. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich nicht weiß, dass Sie und Herr Thiel nicht wirklich ein Paar sind?"
„Oh!", war das Einzige, was Boerne pikiert über die Lippen brachte.
Dünnes Eis, sehr dünnes Eis.
„Natürlich sind all meine Kollegen der Annahme, dass Sie und Frank liiert sind, aber ich habe es in seinen Augen gesehen."
„Was gesehen?", hakte Boerne nach.
„Den Schmerz, die Trauer, die Verzweiflung, die Wut, die Sehnsucht, die Angst, den Hass auf den getöteten Jungen, ach ich könnte Ihnen noch hundert Dinge aufzählen. Am Anfang hatte ich wirklich geglaubt, dass Sie und Thiel ein Paar seien, doch ich habe gemerkt, wie unsicher er war, wie schwer es ihm anfangs fiel sich Ihnen zu nähern, zu offenbaren und für Sie da zu sein. Der wollte das, das hat man gesehen, aber da war eben eine unsichtbare Mauer, die Sie beide trennte und welche er nicht ungefragt durchbrechen wollte."
Boerne schluckte.
Noch kein einziges Mal hatte er sich richtige Gedanken darüber gemacht, wie für Thiel das alles nur gewesen sein musste, als er so im Koma lag und niemand wusste, ob er die ganze Sache überleben würde.
„Und warum haben Sie uns oder ihn nicht auffliegen lassen?"
„Weil ich gespürt habe, dass Sie tief in seinem Herzen verankert sind. Sicher war die Ehe vor Ihrem Onkel gespielt, genauso die Partnerschaft vor uns, aber ich habe Frank angemerkt, dass Sie sein wichtigster Mensch im Leben sind und er alles für sie getan hätte, wäre es nötig gewesen. Ich weiß nicht wie viele Stunden er an Ihrem Bett verbracht hat und dabei selbst die höllischsten Schmerzen ertrug, nur um Ihre Hand zu halten, Ihnen etwas vorzulesen oder Ihnen irgendwelche Geschichten zu erzählen. Frank hat Sie wirklich gehegt und gepflegt wie seinen Augapfel. Ich habe ihn nicht einmal jammern hören."
Boernes Herz klopfte immer schneller, denn diese Worte waren zwar traurig, aber zugleich auch Balsam für seine Seele.
„Ich vermute er hat sich zurückgezogen, aus Gründen, welche ich nicht kenne, aber lassen Sie ihn nicht los, Professor. Der liebt Sie."

Im Rausch der VergeltungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt