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Da Thiel Besuch von einer Pflegerin bekommen hatte, erhob er sich kurzerhand von seinem Stuhl und entfernte sich einige Meter vom Bett.
„Warum haben Sie denn nichts gesagt, Herr Thiel?"
Schulterzuckend und ohne jeglichen Kommentar blickte er zu der korpulenten Schwester, die ihm eigentlich schon recht sympathisch war. Immerhin hatte die ihm ja auch angeboten, dass er mit ihr sprechen könnte, was für ihn aber überhaupt keine Option war.
Trotzdem, dass Angebot von ihr fand er wirklich nett.
„Ich hab mir das ja gleich gedacht.", redete sie weiter und entfernte den leeren Beutel von der Sonde.
„So Herr Professor, jetzt gibt's was zum Spachteln. Es ist zwar jetzt kein Kaviar, aber ich denke, da Sie es nicht schlucken müssen, tut es das genauso."
Thiel musste jetzt wirklich Grinsen, hatte aber direkt zwei Fragen in seinem Kopf, die er schon gerne an den Mann, in dem Fall eher an die Frau, bringen würde.
„Woher wissen Se' denn, dass der Professor gerne diniert und nur mit exquisite Speisen seinen Gaumen schmeichelt?", wurde er die erste Frage direkt mal los.
„Mein Mann, Dr. Wenzel aus der Inneren, geht regelmäßig mit Herrn Boerne zum Golfen."
Aha, na das erklärte so einiges. Das war aber auch mal wieder so typisch, dass Boerne auch hier seine Kontakte hatte. Als Arzt gehörte der Wenzel ja wohl auch zu den oberen Zehntausend.
„Und woher kennen die sich?", fragte Thiel weiter und schob die anderen Fragen erstmal beiseite.
„Justus und Herr Boerne haben zusammen studiert."
Achja? Das fand Thiel ziemlich komisch und runzelte die Stirn.
„Aber Boerne ist doch Leichenschnippler."
„Ja, aber auch Arzt oder woher denken Sie, kommt sein Doktortitel?"
Den blendete Thiel ja eigentlich immer gerne aus, aber jetzt wo sie es erwähnte, machte das alles schon irgendwie Sinn.

„So, Achtung Herr Professor, jetzt wird's ein wenig ungemütlich."
Thiel sah erstaunt zu, wie die Schwester Boerne so problemlos im Bett hin und her schaukelte, um ihn, in eine andere Position zu bringen.
„Na, liegen Sie bequem?", redete sie unbeirrt weiter. Erwartete die wirklich, dass Boerne ein Zeichen gab oder was war da los?
„Wir drehen ihn alle paar Stunden, damit er sich nicht wund liegt.", erklärte sie weiter, was Thiel gelegen kam, denn da wollte er gerade nachhaken.
„Und warum kommentieren Sie das alles? Er schläft doch."
Thiel stellte die Frage nicht vorwurfsvoll, eher interessiert und aus seiner , wie er fand, peinlichen Unwissenheit heraus.
„Empathie und Respekt sind hier die Zauberworte Herr Thiel. Auch wenn Herr Boerne im Koma liegt, heißt es ja nicht, dass er nichts mitbekommt."
Thiel zog erstaunt eine Augenbraue nach oben.
„Ach nicht?"
Kopfschüttelnd lächelte ihn die Pflegerin an.
„Sie dürfen sich ruhig setzen und dann erklär ich es Ihnen."
Zögerlich setzte sich Thiel wieder auf den Stuhl, worüber er sehr froh war, denn seine Beine hätten ihn wohl nicht viel länger getragen. Er spürte deutlich, dass er immer noch malad war.
„Ich bin übrigens Uli!", stellte sie sich vor, weshalb Thiel die Hand zum Gruß erhob.
„Joa, angenehm. Frank."
Irgendwie war es Thiel ein wenig suspekt, dass sie offensichtlich so mir nichts, dir nichts zum Du übergingen, doch was sollte daran eigentlich schlimm sein?
Uli zog sich ebenfalls einen Stuhl auf die gegenüberliegende Seite des Bettes hin und setzte sich darauf. Thiel beobachtete genau, wie sie ein Stäbchen nahm, es in eine Flüssigkeit tauchte und die Maske aus Boernes Gesicht nahm.
„Achtung Herr Professor jetzt wird's feucht.", kündigte sie an und fuhrwerkte damit in seinem Mund herum. Vermutlich war ihr Thiels fragender Blick aufgefallen, denn sie lächelte plötzlich in seine Richtung.
„Wer hat schon gerne einen trockenen Mund?"
Nun wurde Thiel so richtig bewusst, was er bisher alles gar nicht so bedacht hatte.
Klar, wenn man nichts trank, hatte man schnell mal einen trocknen Mund und wenn man schlief, drehte man sich ja automatisch. Boerne hingegen konnte das ja nun jetzt nicht ohne fremde Hilfe, weshalb Uli das scheinbar für ihn übernahm.
„Und was machen Se', was machst du da jetzt?", fragte er, als sie plötzlich Butter auf einem Tupfer hatte.
„Damit die Lippen nicht noch mehr aufreißen. Butter ist fett und hält die Haut geschmeidig."
Thiel kam sich wirklich vor, wie ein dummer Schuljunge, der von tuten und blasen keine Ahnung hatte.
„Wenn du hier bist, kannst du das zwischendurch auch mal machen. Er wird's dir danken. Einfach ein wenig Butter drauf und auf den Lippen verteilen und mit dem Lolly kannst du seinen Mund befeuchten. Balsam für die Seele ist das."
Thiel wusste zwar nicht, ob er sich zu so etwas überwinden könnte, aber er nickte freundlich und schickte ein Lächeln hinterher.
„Menschen die im Koma liegen oder in eines versetzt wurden, nehmen äußere Einflüsse durchaus wahr. Das ist sogar wissenschaftlich belegt und viele der Patienten, berichteten sogar, dass sie teilweise mitbekommen haben, wenn ihre Angehörigen da waren.", erzählte sie, was Thiel sich zwar nicht so recht vorstellen konnte, aber dennoch spannend fand.
„Und deshalb redest du mit ihm auch ganz normal, als wäre er wach?", fragte Thiel schließlich.
„Ganz genau. Natürlich auch wegen der Wertschätzung, aber man weiß nicht, wie viel er hier gerade im Unterbewusstsein mitbekommt. Ich arbeite nach dem Motto: Behandle deine Patienten, wie du auch behandelt werden möchtest und damit Frank, fahr ich schon seit über zwanzig Jahre bestens."
Uli rückte die Atemmaske wieder an Ort und Stelle und erhob sich vom Stuhl.
Als sie um das Bett herum gegangen war, tippte sie ein wenig auf den Monitoren herum und so gleich füllte sich die Blutdruckmanschette mit Luft.
„Manchmal kann man sogar anhand des EKG's oder am Blutdruck und Puls sehen, dass sich im Körper was tut. Wenn er zum Beispiel entspannt ist, dann sind seine Werte eher niedriger, aber manchmal sind Koma Patienten angespannt und da kann es passieren, dass die Werte nach oben gehen. Das Phänomen gibt es aber auch, wenn sie jemanden um sich haben, den sie gerne haben."
Irgendwie wollte Thiel das dann doch nicht alles glauben. Für ihn klang das ein wenig nach Quacksalberei, aber behaupten konnte er es nicht.
„Du machst doch Witze oder?", traute er sich dann zu fragen.
„Nein, dass mein ich ernst. Herr Boerne ist nicht der erste Koma Patient von mir. So, genug getratscht. Meine Herren? Ich verabschiede mich nun."
Lächelnd verbeugte sie sich erst vor Boerne und dann vor Thiel und wuselte wieder aus dem Zimmer.

Das war wirklich verrückt gewesen, aber auch irgendwie interessant und spannend. Sollte Uli wirklich nicht geflunkert haben, dann würde Boerne vielleicht wirklich spüren, dass Thiel bei ihm am Bett saß und über ihn wachte.
Das klang irgendwie romantisch, wenn auch furchteinflößend.

Im Rausch der VergeltungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt