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„WOZU? ER...IST....TOT!"
Wow, so kannten die Kommissare Boerne überhaupt nicht.
Boerne erhob sich aus seinem Stuhl und lief unruhig im Verhörsaal umher.
„Was wird er mir schon angetan haben?", fragte er aufgekratzt, als wäre es das Normalste der Welt, es zu wissen, ohne dabei gewesen zu sein.
„Er hat mir natürlich ein Glas Wein, eine Zigarre und ein Fünf-Gänge Menü angeboten.", frotzelte Boerne voller Ironie, stellte sich vor die Spiegelscheibe und verschränkte so weit es ihm möglich war, die Arme vor der Brust.
Das er vermutlich gerade direkt vor Klemms Linse stand war ihm bewusst, aber ziemlich egal. Er war aufgebracht, fühlte sich gedemütigt und gepeinigt. Warum sollte er da jetzt nicht das Recht haben, wütend zu sein, seinem Zorn Ausdruck zu verleihen und sich zurückgehaltene, aufsteigende Tränen mit dem Hemdsärmel wegzuwischen?
„Boerne, hey.", kam es leise von Thiel, der sich inzwischen hinter den Pathologen gestellt hatte und ihm seine Hand auf die Schulter legte.
Boerne hielt allerdings nicht viel von der plötzlichen Nähe und spannte seinen Körper intuitiv an.
„Karl-Friedrich, hör mir zu.", begann Thiel einen neuen Versuch und war selbst überrascht, dass ihm der Name dann doch so einfach über die Lippen gegangen war. Anscheinend fruchtete das aber bei dem Gerichtsmediziner, denn der atmete durch und lehnte sich mit vollem Gewicht an Thiels Frontseite.
„Wir wollen dir nichts böses, das weißt du doch. Ich möcht' nur schon so'n büschen mehr verstehen können, was passiert ist. Sicher ist das nicht mehr so relevant vor Gericht, da der Arsch tot ist, aber bitte erzählst du's mir trotzdem?", fragte Thiel in sanftem Tonfall, was nicht nur Nadeshda, sondern auch die Klemm zum Staunen brachte. Diese feinfühlige Seite kannten sie von dem Kommissar noch überhaupt nicht, weswegen keine der Beiden dazwischen grätschte.
Nadeshda erhob sich sogar aus ihrem Stuhl, warf Thiel ein kurzes Nicken zu und verließ den Verhörsaal, um Boerne Zeit zugeben, sich zu sammeln.

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„Gute Entscheidung Frau Krusenstern. Boerne scheint tatsächlich stark traumatisiert zu sein. Vermutlich ist Thiel der Einzige, der jetzt einen Einfluss auf ihn hat.", kam es von der Klemm und Nadeshda nickte ihr zustimmend zu.
„Sie wissen ja, dass ich kein Fan von Boerne bin, aber mir tut der Professor soooo Leid. Das muss ja wirklich die Hölle gewesen sein. Boah, aber der Chef, so kenn ich den gar nicht. Der ist doch sonst nicht so sensibel."
„Die Erfahrung lehrt uns, dass Liebe nicht darin besteht, dass man einander ansieht, sondern dass man gemeinsam in gleicher Richtung blickt. Das ist im übrigen von Antoine de Saint-Exupéry. Schauen Sie sich die beiden Herren doch mal an."
Und das tat Nadeshda und musste Lächeln, als sie durch die Spiegelscheibe blickte und ihr Chef Boerne von hinten im Arm hielt. Hätte sie es nicht besser gewusst, könnte man denken, dass sie seit Jahr und Tag so ein inniges Verhältnis hatten, so vertraut wirkten sie auf Nadeshda.
„Zehn Euro, dass Thielchen ihm gleich einen Kuss auf die Wange drückt!", kam es unerwartet von der Staatsanwältin.
„Der Chef? Im Leben nicht! 10 Euro dagegen!", kicherte Nadeshda.
Neugierig blickten sie auf die Männer, die noch immer wortlos und unverändert vor ihnen standen.
Als würde der Chef Boerne küssen, die Frau Klemm hat vielleicht Humor, dachte Nadeshda grinsend und schüttelte unmerklich den Kopf.

„Na schön. Ich erzähl's dir.", sagte Boerne plötzlich, als hätte er den Kampf aufgegeben.
„Danke.", antwortete Thiel daraufhin und drückte dem Professor einen sanften Kuss auf die Wange.
Ohne Nadeshda anzugucken, begann die Klemm zu grinsen und streckte ihr die Hand entgegen.
„Nachher!", murrte Nadeshda, die direkt wusste, dass die Klemm auf die verwetteten 10 Euro wartete.
Wie konnte sie sich nur so getäuscht haben? Müsste sie ihren Chef nicht besser kennen, als die Klemm?

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„Möchtest du dich wieder setzen?", fragte Thiel, dem seine Zehenspitzen schon weh taten. Boerne war zwar selbst nicht der Größte, im Vergleich zu ihm aber schon und so waren auch die 11 Zentimeter Unterschied irgendwie trotzdem nervig. Zumindest eben in dieser Pose, in der sie gerade standen.
„In Ordnung."
So setzten sich die beiden Männer schließlich wieder nebeneinander und Boerne umgriff die Glasflasche mit der Hand, als brauchte er irgendeinen anderen Halt als Thiel, denn diese Nähe hatte ihn offenbar wirklich beruhigt.
„Ich weiß nicht wo ich anfangen soll. Er hat mich geschlagen, bespuckt, auf's Übelste beschimpft und beleidigt, hat mir so lange ins Gesicht geboxt, bis ich geblutet habe, er hat auf mich eingetretenen, als ich am Boden lag... Ich glaube es gibt keine Körperstelle, welche er ausgelassen hat. Schlimm war aber nicht mal der Schmerz durch die Verletzungen. Furchtbar war der Durst und die dadurch ausgelösten Symptome, welche ich dir ersparen möchte, weil ich weiß wie sehr du es satt hast, dass ich dir detailliert mein Fachwissen zukommen lasse und weißt du was sogar noch schlimmer war?"
Während der gesamten Zeit hatte Boerne stur geradeaus geschaut, ein richtiger Tunnelblick, keine Regung gezeigt, einfach gesprochen, doch jetzt blickte er zu Thiel.
„Ich hatte Angst. Ich hatte so verdammte Angst!"
Plötzlich liefen ihm Tränen über die Wangen und er vergrub sein Gesicht in den Händen. Boerne schämte sich vor Thiel dafür und er wollte nicht, dass er ihn so sah.
Fürsorglich wurde er in eine Umarmung gezogen und der Kommissar streichelte beruhigend durch die Haare des Professors.
„Man, aber das ist doch wohl klar, Boerne. Ich hätte auch Schiss, wenn mich jemand so vermöbelt. Da hätt' ich auch Angst um mein Leben.", drangen Thiels tröstende Worte in sein Bewusstsein.
„Das mein ich nicht... Okay, das natürlich auch, aber ich hatte Angst davor, dass du zu spät kommst, Thiel. Ich hatte Angst davor, dass du mich nicht rechtzeitig findest und das du nur noch irgendwann meine Leiche begutachtest, am Besten noch mit Alberich zusammen."
Ja, davor hatte Boerne am meisten Angst und damit meinte er nicht seinen eigenen Tod.
„Ich verstehe dass du Todesangst hattest. Wirklich.", kam es wieder von Thiel, der wohl gar nicht kapiert hatte, worauf Boerne wirklich hinaus wollte.

Im Rausch der VergeltungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt