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Als Thiel am nächsten Vormittag vom Einkaufen zurück kam und die Tür hinter sich geschlossen hatte, räumte er gemütlich die Lebensmittel in den Kühlschrank.
Hatte halt doch wirklich mehr Vorteile, wenn nicht nur ein ranziges Stück gesalzene Butter und zwei traurig dreinblickende Tomaten dort 'rumlagen.

Gerade als er sich eine Tasse Kaffee eingeschenkt hatte, klingelte es an seiner Wohnungstür.
„Moin Frank."
Oha, wo kam der denn jetzt bitte her?
Herbert hatte er seit jenem Tag ebenfalls nicht mehr gesehen, worüber er aber auch nicht wirklich traurig war.
„Moinsen Vaddern."
Ohne ihn herein zu bitten, drehte sich der junge Thiel um, watschelte zurück zu seinem Esstisch und ließ sich auf den Stuhl sinken.
„Hättest dich ruhig mal melden können!", beschwerte sich Vaddern und schenkte sich ebenfalls eine Tasse ein.
„Warum? Du kommst doch sowieso immer wieder von alleine an.", antwortete Thiel gelangweilt und gähnte zur Unterstreichung seiner Desinteresse.
„Doch nicht bei mir! Das heißt, bei deinem alten Vater könntest du dich zwischendurch auch mal melden und nicht nur, wenn du einen fahrbaren Untersatz brauchst, aber ich rede vom Professor.", führte Herbert seine Ansprache zu Ende und setzte sich neben ihn auf den Stuhl.
„Was hat jetzt Boerne damit zu tun?", fragte Frank völlig perplex.
Sein Vater redete aber manchmal auch chinesisch.
„Erst 'rummachen, als gäbe es kein Morgen und dann tagelang nix hören lassen? Das 'Schwanz einziehen', hast du aber bestimmt nicht von mir!"

Schimpfte Herbert gerade wirklich mit ihm? Wenn ja, warum?

„Vaddern, komm auf'n Punkt. Was willst du von mir?"
Langsam wurde es Thiel zu bunt.
„Eigentlich hattest du dem feinen Pinkel versprochen, dass du ihn vom Krankenhaus abholst, wenn es jemals soweit wäre und stattdessen durfte ich das jetzt machen. Nur weil ich Thiel heiß, bin ich noch lange nicht euer Taxi. Also Taxi schon, aber nicht euer leibeigener Chauffeur.", maulte Herbert und fischte sich einen Keks aus der Dose.
„Moment mal. Jetzt nochmal ganz langsam. Du hast Boerne abgeholt? Ist er daheim? Wie geht's ihm? Ach und nenn ihn nicht Pinkel, ja?"
Herbert rollte mit den Augen und schob sich einen weiteren Keks zwischen die Backen.
„Ich mein ja nur. Der if daheim. Fieht irgendwie geknickt auf. Über dich wollt der gar nicht fprechen. Verftehe gar nicht waf der hat. Kann ich ja nicht wiffen, daf ihr Freff habt.", schmatze Herbert und Thiel musste fast lachen, weil es sich so lustig anhörte.
„Ab Zweihundert Gramm wird's undeutlich!", meinte Thiel und nahm seinem Vater den nächsten Keks weg, in den der gerade hineinbeißen wollte.
„Heeeey! Fpafbremfe!"
„Jetzt sag schon. Wie geht's ihm?" wiederholte sich Thiel und sah seinen alten Herren ungeduldig an.
„Frag ihn doch selbst, Junge. Bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen!", antworte Herbert, nachdem er die Kekspampe mit reichlich Kaffee heruntergespült hatte.

Okay, da kam er nicht wirklich weiter, aber zu Boerne rüber gehen, dass war ja nun wirklich auch keine Option.

****

Nachdem Herbert wieder los musste, saß Thiel nun alleine am Küchentisch und dachte nach.
Papa hatte recht gehabt, er hätte Boerne tatsächlich zugesichert, dass er ihn abholen würde, wenn er endlich aus diesem verflixten Krankenhaus raus durfte. Stattdessen hatte er ihn jetzt tagelang nicht mal besucht und wäre Herbert nicht gekommen, hätte er nicht mal so schnell erfahren, dass Boerne überhaupt wieder zu Hause war.

Zu Hause - Er war endlich wieder da.

Eine Träne der Erleichterung rollte ihm über die Wange. Wie viele Nächte hatte er gebetet, dass Boerne wieder aufwachen würde, dass er wieder nach Hause kommen würde und dass er wieder der Alte werden würde... und jetzt? Jetzt war es endlich so weit und das Leben könnte wirklich wieder geregelte Bahnen annehmen. Könnte....
Könnte, wenn nicht alles so verflixt kompliziert wäre und er an dem Schlamassel nicht auch noch selbst Schuld hätte.
Sonst schob er ja immer jegliche Schuld auf den Professor, selbst wenn der gar keine hatte, aber dieses Mal musste Thiel einsehen, dass nur er, er ganz alleine einen dummen Fehler begangen hatte, den es eigentlich auszubügeln galt.
Ob er nach alle dem einfach so bei Boerne klingeln konnte?
Würde der alleine überhaupt klar kommen?
Was war eigentlich mit seinem Arm? War der wenigstens wieder zu gebrauchen?
Scheiße! Warum hatte er ihn die letzten Tage nur so hängen gelassen?

****

Bis zum Abend hin, hatte Thiel gehofft, dass Boerne vielleicht die Initiative ergreifen würde und bei ihm klingelte, doch leider tat ihm der Professor den Gefallen nicht, was ihm eigentlich von vornherein schon klar war.
Boerne war beleidig, sauer, angefressen, was auch immer. Vermutlich hatte der schon mit ihrer Freundschaft abgeschlossen, ehe sie so richtig offiziell begonnen hatte.

Was also tun? Rüber gehen? Ihn Willkommen heißen? Hilfe anbieten?
Nein, dass war doch alles Unfug.
Am Besten sollte er ihn erstmal ankommen lassen, danach könnte er immer noch die Tage mal zu ihm rüber gehen und nach dem Rechten schauen.
Ja, dass war doch mal eine passable Idee.

****

Frisch geduscht und in Jogginganzug gekleidet, kam Thiel aus dem Badezimmer und blickte in Richtung Wohnzimmer.
Ob Boerne auch im Wohnzimmer saß? Vielleicht bei einem Glas Rotwein und Richard Wagner?
Oh man, tagelang hatte er es geschafft, seine Gedanken an Boerne weitestgehend zu verdrängen und kaum war der wieder zu Hause, ging der ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf.
Boerne wäre doch mit Sicherheit zu stolz, um nach Hilfe zu fragen oder?
Vielleicht sollte er doch noch schnell rüber schauen, ob alles in Ordnung war?

Kurz hielt der Kommissar inne, doch dann trugen ihn seine Beine fast schon von allein zu seiner Wohnungstür.
Mit seinem eigenen Schlüssel bewaffnet, ging er schließlich in den Flur und trat vor Boernes Wohnung.

Einfach entschuldigen und etwas Hilfe anzubieten, konnte ja nicht so schwer sein, dachte Thiel und drückte seine Hand zögerlich auf den Klingelknopf.
Hoffentlich weckte er ihn nicht auf, schoss es ihm dann durch den Kopf, aber als er durch das kleine Fenster sehen konnte, wie das Licht in Boernes Flur an ging und auch eindeutig Schritte hörte, wusste er, dass der Pathologe noch nicht geschlafen haben konnte.

„Herr Nachbar, was gibt's?", fragte Boerne in reserviertem Tonfall.

Im Rausch der VergeltungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt