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Als Thiel am nächsten Tag erwachte, fiel sein erster Blick auf Boerne, der natürlich, wie war es anders zu erwarten, seelenruhig vor sich hin schlummerte. Hätte Thiel sein Handy dabei gehabt, hätte er sich vielleicht mal heimlich ein Foto davon geschossen. Nicht weil er böse Absichten hatte oder es eventuell mal gegen Boerne verwenden wollte, nein, einfach um ihn an die schlimme Zeit zu erinnern, aber auch um es zwischendurch ansehen zu können, wie friedlich Boerne schlief.
Vielleicht würde das ja auch an Tagen helfen, an denen ihm Boerne mal wieder tierisch auf den Wecker fiel? Da war sich Thiel sicher, dass auch diese Tage irgendwann wieder kommen würden. Nun ja, vielmehr hoffte er es.

Ob es einen Unterschied gab bei Boerne? Also gab es bei Menschen im Koma so Phasen in denen sie wacher waren oder gar fester schliefen?
Irgendwie kam es Thiel lächerlich vor, sich selbst so komische Fragen zu stellen, weshalb er sich sofort dazu entschieden hatte, damit aufzuhören.

Mit seinem Kulturbeutel bewaffnet, lief er auf Boerne zu und stellte sich neben ihn ans Bett.
„Moinsen Herr Professor."
Zögerlich strich er dem schlafenden Boerne eine Strähne aus dem Gesicht und mahnte sich kurz darauf selbst, dass er ihn ohne Schutzkleidung doch gar nicht berühren sollte.
Man, dass war aber auch eine Kacke. Wie sollte der andere denn Nähe und Wärme spüren, wenn man ihn immer nur mit so dussligen Handschuhen anfassen durfte?

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Frisch gewaschen, geschniegelt und gestriegelt, holte sich Thiel einen frischen Kittel und zog sich die Handschuhe über. Als er bei der rechten Hand etwas mehr kämpfen musste, blickte er auf den Ring, der das Anziehen der engen Handschuhe noch schwieriger gestaltete.
Wären seine Finger vielleicht auch etwas schlanker, wenn er ein paar Kilo abnahm? Bestimmt würde der Ring dann besser passen und nicht so penetrant drücken.

Nachdem er endlich alles nötige anhatte, setzte er sich neben seinen Nachbar und drückte dessen Hand.
„So, noch mal Moin, Boerne. Ich bin's Frank, äh  - ich meine Thiel."

Was war das denn jetzt? Das war ihm dann doch auch noch nie passiert. Nun ja, eigentlich war es im Grunde gar nicht so schlimm, denn Boerne hatte ihn vor Gustav schließlich auch beim Vornamen genannt und wenn Thiel ehrlich war, gefiel es ihm sehr gut, wenn der Andere das tat. Das hatte irgendwie etwas vertrautes, persönliches, ja fast schon intimes.
„Was halten Se' davon, wenn ich Ihnen ein bisschen im Mund herumfuhrwerke? Lassen Se' mich raten - nicht viel. Tja Boerne, wehren ist jetzt nicht. Da müssen Se' jetzt schon so'n büschen vertrauen haben."
Eigentlich sagte Thiel das mehr zu sich selbst, denn irgendwie war er ja schon ziemlich angespannt. Sowas hatte er schließlich noch nie getan und hatte Angst davor, irgendwas falsch zu machen.
Vorsichtig griff er nach einem verpackten Lolly und legte ihn auf den Nachttisch.
Nachdem er aus dem Bad frisches Wasser geholt hatte, tauchte er das kleine Stäbchen nach dem auspacken hinein und atmete durch.

Wie war das denn jetzt noch gleich gewesen? Thiel musste kurz überlegen, bis er unsicher die Atemmaske abnahm und sich Boernes Mund näherte.
„Augen zu und durch.", sprach er sich selbst Mut zu, aber so schlau wäre das sicher nicht gewesen, weshalb er seine Augen natürlich auf behielt.
Im ersten Augenblick fühlte es sich ziemlich befremdlich an, doch es dauerte nicht lange und er hatte den Dreh heraus. Immer und immer wieder, wiederholte er diese Prozedur und so ein bisschen stolz war er da schon auf sich gewesen, als er ihm die Maske wieder aufgesetzt hatte.
„War zwar nur Gänsewein, aber besser als gar kein Wein, was Boerne?!"
Grinsend warf er den benutzen Lolly in den Müll und plötzlich kam ihm da so eine Idee.
Die anderen hatten doch gesagt, dass man irgendwas tun soll, was derjenige kannte, wäre da Wein nicht eine Idee gewesen?
Hmm, vielleicht war das aber auch nur eine Schnapsidee und eher schädlich als hilfreich. Trotzdem, da würde er sich bei Gelegenheit schon noch mal schlau machen.

„So Pussibärchen, ich werd mal nach einem Telefon Ausschau halten gehen."
Grinsend streichelt Thiel einmal über Boernes Hand und drehte sich von ihm weg.

„Guten Morgen.", ertönte die gut gelaunte Stimme von Uli, die unerwartet neben ihn zum Stehen kam.
„Moinsen.", entgegnete Thiel leicht verblüfft.
„Na das wird ja langsam. Ich hab euch zwei Täubchen von draußen beobachtet. Der Herr Professor kann stolz auf seinen Herzbuben sein. Sehr vorbildlich gemacht."
Zur Unterstreichung ihrer Worte, deutete sie auf die Packung mit den Lollys und den Wasserbecher.
„Mja, man wächst an seinen Aufgaben."
Thiel war ganz schön verlegen, nicht mal unbedingt wegen der Worten von Uli sondern, weil sie ihn ganz offensichtlich beobachtet hatte.
So musste Boerne sich bestimmt auch fühlen, wenn er neben ihm saß und ihn stundenlang anschwieg.
„Du Uli, darf ich dich mal was fragen?"
Uli stellte Thiels Frühstückstablett auf den Tisch und nickte ihm gut gelaunt zu.
„Schieß los Schnucki."
Schnucki, so hatte ihn dann auch noch niemand genannt. Hm - vielleicht war das aber so üblich, also das Frauen, vermeintlich schwulen Männern irgendwelche seltsamen Kosenamen gaben.

„Gibt's hier ein Münztelefon oder so? Ich müsste mal meinen alten Herren anfunken."
„Unten vor der Cafeteria, gegenüber von den Toiletten ist eins. Das kannst du gar nicht verfehlen."
Thiel begann zu nicken, zog sich vor der Tür aus, desinfizierte sich, wusch die Hände und setzte sich dann auf sein Bett.
„Zumindest schmeckt der Kaffee hier nicht so ekelhaft wie im Präsidium."
Hatte das ganze dann halt doch einen kleinen Vorteil, fand Thiel und nippte an seinem Kaffee.
„Stört es dich, wenn ich den Professor nebenbei ein wenig salonfähig mache?"
Thiel, der gerade von seinem Brötchen abbiss, schüttelte den Kopf.
„Tu dir keinen Zwang an.", meinte er schmatzend und nippte dann an seinem Kaffee.

Hätte Thiel gewusst, dass Uli damit meinte, dass sie die Bettdecke bis auf Boernes Beckenhöhe zurück zog und ihm sein Flügelhemd anschließend auszog, hätte er vielleicht doch einen Einwand gebracht.
Da Thiel aber schlecht sagen konnte, dass es dem Pathologen bestimmt nicht so recht wäre, wenn er hier einen auf Voyeur machte, entschied er sich die Klappe zu halten und sein Brötchen zu Ende zu essen.
Außerdem hatte er Boerne ohnehin ja schon des Öfteren mal oben ohne gesehen, weshalb er da jetzt kein großes Problem darin sah.

„So, dann hol ich mal fix das Wasser."
Die wollte den jetzt aber nicht vor seinen Augen waschen oder?

Auch diesen Teil hatte Thiel gar nicht berücksichtigt, aber irgendwie war es ja auch logisch, dass man ihn nicht vierundzwanzig Stunden so liegen lassen konnte.

Zögerlich riskierte er dann aber doch einen Seitenblick und war geschockt, als er den Oberkörper des Anderen betrachtete.
Als er genauer hinsehen wollte, kam Uli aber schon mit einer Waschschüssel angetrabt und Thiel guckte scheinheilig in seine Kaffeetasse.
„Findest du nicht, dass Boerne ein bisschen Privatsphäre verdient hätte?"
„Oh, wie konnte ich nur. Natürlich."
Sofort schloss Uli den Lamellen-Rollo an der Glasfront und wendete sich wieder Boerne zu.
So hatte Thiel das ja nicht gemeint gehabt. Eigentlich sprach er ja mehr von dem Vorhang, welchen man zwischen seinem und Boernes Bett zuziehen konnte, doch vielleicht war es wirklich besser, wenn er einfach die Klappe hielt.

Im Rausch der VergeltungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt