Kapitel 1

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London, 10. 04. 1895

Die Kutsche erreichte das Haus meiner Schwester gegen Abend des ungewöhnlich kühlen Frühlingstages. Die Straße war von hellen Laternen erleuchtet und mir so vertraut, dass ich leise seufzte. Mein Blick fiel auf einen Laternenanzünder, der gerade die letzte in dieser Straße zum Leuchten brachte und ich wartete, bis der Kutscher vom Kutschbock gesprungen war, den Verschlag geöffnet und mir herausgeholfen hatte. „Vielen Dank", murmelte ich geistesabwesend, doch er schien auch nicht mehr zu erwarten. Stattdessen wandte er sich ab, um mein Gepäck zu holen.

Ich zog das Tuch, in das ich mich gewickelt hatte, enger um meine Schultern und eilte die wenigen Schritte zum hellerleuchteten Haus. Für einen Moment betrachtete ich die wunderschöne Holztür mit ihren geschnitzten Ornamenten und betätigte dann den Klingelzug.
Einen Moment später stand der Butler Mr George in der Tür und begrüßte mich leise. Ich trat ein und seufzte wohlig angesichts der angenehmen Wärme, die mich sofort umfing. „Ihre Schwester, Ihr Schwager und Ihre Nichte befinden sich im Salon. Ich werde Ihnen Tee und Sandwiches bringen, da Sie sicher hungrig sind", bemerkte der Butler aufmerksam und dieses eine Mal konnte ich nicht anders, als zu lächeln. „Vielen Dank, Mr George. Das ist überaus freundlich von Ihnen." „Es ist mir ein Vergnügen, Miss." Ich nickte ihm noch kurz zu und betrat dann den Salon.

Ein freudiges Quietschen begrüßte mich und einen Moment später flog mir ein blonder Lockenkopf in die Arme. Ich lachte. „Raven wieder da", murmelte meine kleine Nichte in mein Ohr, während ich sie an mich drückte. „Sophie. Benimm dich anständig", wies die Stimme meiner Schwester die Kleine streng zurecht, doch als ich sie anblickte, sah ich, dass ein Lächeln ihre Lippen umspielte. „Rose! Henry", schmunzelte ich und setzte Sophie wieder auf dem Boden ab, um auch meine Schwester und meinen Schwager endlich zu begrüßen. „Es ist schön, dass du wieder da bist, Raven", meinte mein Schwester und umarmte mich kurz. Auch Henry drückte mich an sich und dann setzten wir uns in die Sessel um den Kamin. „Wie war deine Reise?", fragte Henry mich und ich seufzte. „Lang und wenig unterhaltsam." Die beiden lachten verhalten. „Was hast du erwartet?", grinste Rose und ich verzog das Gesicht, zog es jedoch vor nicht zu antworten.

Ich hatte meine Eltern zuhause besucht, da gerade Semesterferien waren und meine Mutter mich genötigt hatte zu kommen. Und ja, ich war eine Frau, die studierte.
Es war erst seit ein paar Jahren erlaubt, dass auch Frauen an der University of London studieren durften und ich war unglaublich froh, dass ich meinem Wissensdrang nachgeben durfte und Medizin studieren konnte. Mein Bruder Ian studierte an der University of London Rechtswissenschaften und so waren wir drei Geschwister hier in London fernab unserer Heimat vereint.
Morgen würde das neue Semester beginnen und mein Kopf sehnte sich nach Anstrengung und Neuem, das es zu ergründen galt. Außerdem würde ich dann auch endlich meine beste Freundin Mary wiedersehen.

Ich wurde ruckartig aus meinen Gedanken gerissen, als Mr George den versprochenen Tee und die Sandwiches brachte. Sophie kletterte unterdessen auf meinen Schoß und schmiegte sich an mich. Die Zweieinhalbjährige blickte mich aus großen Augen an und ich schmunzelte über sie. Ihre Eltern schafften es einfach nicht, ihr wildes Temperament zu zähmen und es bereitete mir immer wieder Freude, sie zu beobachten.

Ich beugte mich vor und nahm den Tee in die Hand, um einen kleinen Schluck zu trinken. „Wunderbar", seufzte ich und schloss für einen Moment erschöpft die Augen. „Willst du zu Bett gehen? Es war ein langer Tag und eine anstrengende Reise und es wäre sicher gut, wenn du morgen ausgeschlafen bist", schlug meine Schwester sofort vor. Sie war schon immer die sensiblere von uns gewesen und hatte sofort gemerkt, wie müde ich war. „Ja, ich denke, dass wäre eine gute Idee", stimmte ich ihr zu und erhob mich. „Soll ich Sophie zu Bett bringen?" Rose lächelte. „Wenn du das möchtest, kannst du das gerne tun. Bei mir ist sie nicht annähernd so lieb wie bei dir."

Ich musste mich stark zusammenreißen, um nicht zu grinsen, denn sie hatte recht. Es war, als wollte Sophie ihre Mutter ärgern, denn auf mich hörte sie aufs Wort. „Dann wünsche ich euch eine gute Nacht." Ich knickste leicht in Henrys und Rose' Richtung und nahm dann meine Nichte bei der Hand und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
„Komm, wir zwei machen jetzt noch einen Abstecher in das Arbeitszimmer deines Vaters, klauen und noch zwei, drei Bücher und bringen dich dann ins Bett", flüsterte ich ihr ins Ohr und grinste.

Henry hatte es gehört und lachte. „Du hast wirklich Glück, dass ich alle Bücher habe, die du brauchst." Ich hob die Augenbrauen. „Da hast du wirklich recht. Eine gute Nacht" Und dann verließen die Kleine und ich den Raum.

Henry hatte es auf den Punkt gebracht. Da er Professor für Medizin an meiner Universität war, konnte ich auf alle seine Bücher zugreifen. Wenn ich ganz normal die Bücher unserer Bibliothek genutzt hätte, wäre ich kein Stück weiter gekommen, weil diese fast immer verliehen waren. Es war ein Jammer.
Ich schnappte mir also einige medizinische Bücher, die ich noch lesen wollte und auch einen kleinen Roman, der mir beim Entspannen helfen würde. Neugierig betrachtete ich ihn. Es handelte sich um eine Sammlung von alten Sagen und Mythen und einigen fantasievollen Geschichten, genau das Richtige für mich.

Ich drückte Sophie den Roman in die Hand und nahm sie auf den Arm. „Hältst du das für mich mal kurz, Süße?" Sie nickte heftig und ihre Locken flogen durch die Luft. Wir stiegen eine breite Treppe hinauf und ich öffnete die Tür zu ihrem Kinderzimmer. Puppen, Holzklötze und Stofftiere lagen hier verteilt und ich vermutete, dass Rose das Zimmer heute noch nicht betreten hatte, denn sonst wäre es deutlich aufgeräumter gewesen. Niemals hätte sie es zugelassen, dass Sophie nicht aufräumte.

Ich trug die Kleine zu ihrem Bettchen und wollte sie hineinlegen, doch sie klammerte sich an meinen Hals. „Nicht gehen, Raven, bitte", flüsterte sie. „Schon gut. Ich bleib hier", murmelte ich beruhigend und nun legte sich Sophie anstandslos in ihr kleines Bett. Ich deckte sie liebevoll zu, strich ihr eine Strähne hinters Ohr und drückte ihr ihr Stofftier Mr Bubble in die kleinen Händchen. „Kann Raven singen?" „Und was möchtest du hören?", fragte ich lächelnd. „Das Lied vom Traumschloss", nuschelte sie müde. Ich schmunzelte. Das war ein Lied, das mein Vater früher immer gesungen hatte. Leise begann ich zu singen.

Auf einer grünen Wiese,
Der Himmel blau und klar,
Bäume im Wind sich wiegen
Dort wurde ein Träumelein wahr.

Der Traum vom Märchenschloss,
Türme aus weißem Marmor,
Zinnen so hoch wie die Wolken
Und Reiter hoch zu Ross

Dort wurde ein Kind geboren,
Haut aus Alabaster
Und Augen so blau wie das Meer,
Sie war zu Großem auserkoren
Und jeder mochte sie sehr.

Ein Kind von Reinheit und Klugheit,
Dies hat die Welt noch nicht gesehen,
Erklimmt die Zinnen ohne Angst
Und springt in die Dunkelheit.

Doch hört man kein Klagen im Schloss,
Denn jeder, der das Kind gesehen,
Musste es auf der Stelle lieb haben
Und als es gen Erde schoss
Umschlossen sanft es die Wolken und ein Wind trug es zurück ins Schloss", endete ich leise, während sich Sophies Augen langsam schlossen und sie eindämmerte. Ich drückte ihr einen kleinen Kuss auf die Stirn und schlich mich dann lautlos aus dem Zimmer.

Ich betrat mein eigenes, das ich seit einem guten Jahr bewohnte. Genauer gesagt, seit ich studierte. Denn seitdem lebte ich bei Rose und Henry.

Ich öffnete die Tür und entdeckte meine Reisetaschen, die Mr George wohl nach oben gebracht haben musste. Die Müdigkeit machte meinen Kopf schwer und ich beschloss, sie morgen auszuräumen. Heute entledigte ich mich nur noch meines Kleides und des Korsetts, öffnete meine Haare und schlüpfte unter die warme Decke, nachdem ich mir eine Kerze angezündet hatte.

Ich betrachtete mein Buch neugierig, fuhr mit den Fingern über den Buchrücken und schlug andächtig die erste Seite auf und sog den Geruch des Papiers ein. Dies war mein eigenes, kleines Ritual, das ich bei jedem neuen Buch vollführte. Es fühlte sich gut an.

Im flackernden Schein der Kerze begann ich zu lesen und ließ mich in die Geschichten sinken, die mich wie einen Strudel mit sich zogen in die Schwärze, bis ich irgendwann eindämmerte.

Mitten in der Nacht erwachte ich mit dem Buch auf dem Boden, das mir aus der Hand gerutscht sein musste, hob es auf und pustete die Kerze aus, die schon fast heruntergebrannt war.
Danach sank ich dankbar zurück ins Land der Träume.

Das ist meine erste richtige Geschichte hier auf Wattpad. Ich hoffe euch gefällt sie bis jetzt! Verbesserungsvorschläge gerne in die Kommentare. Liebe Grüße
Shay198125

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