Kapitel 36

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Sicht: Leander Sandrian

Nun war ich verdammt froh, dass ich mich schon gestern von meinen Eltern und Arianna verabschiedet hatte. Die Zeit rannte mir davon und ich fluchte leise, als mir ein Skalpell aus der Hand fiel, das ich hatte einstecken wollen.

Die meisten Sachen waren gepackt, doch viel mehr als eine große Tasche konnte ich nicht mitnehmen. „Anni, Nathan, habt ihr eure Sachen?“, fragte ich über meine Schulter, wo meine Kinder mich anstarrten. Als ich keine Antwort erhielt, ballte ich meine rechte Hand zu einer Faust und hetzte die Treppe hoch in die Wohnung.

„Jim!“ Mein Freund erhob sich aus einem Sessel und grinste mich an. „Wir reisen ab und ich muss noch die Koffer für die beiden Kleinen packen. Es tut mir leid, dass ich dir nicht mehr helfen kann…“ Er hob beruhigend die Hand und hielt zwei fertig gepackte Köfferchen hoch. Ich seufzte erleichtert. „Du bist ein wahrer Freund. Ich danke dir für alles, das du für uns getan hast. Ich weiß, dass du viel riskiert hast. Bleib so lange hier, wie du möchtest.“

Er nickte. „Lee, du warst immer ein guter und loyaler Freund und ich danke dir, dass du mich gerade jetzt nicht im Stich gelassen hast. Wenn hier jemand jemandem etwas schuldet, dann ich dir.“ Mit diesen Worten drückte er mir die Koffer in die Hand und klopfte mir auf die Schulter. Ich lächelte, fühlte jedoch eine unterschwellige Besorgnis. „Pass auf dich auf.“

Zu meiner Überraschung hob er die Hand und zeichnete mir mit seinem Daumen ein Kreuz auf die Stirn. „Gott möge dich beschützen, dich und deine Familie. Ich bin sicher, du wirst noch viel in deinem Leben erreichen.“ Ich war erstaunt, wie gerührt ich war, doch er bedeutete mir tatsächlich viel und es schmerzte mich, ihn und alle anderen zurückzulassen.

Bevor ich noch sentimental werden konnte, nickte ich ihm zu und stapfte wieder nach unten. Die beiden Zwillinge stritten sich lauthals und jagten hinter einander her. „Schluss jetzt!“, brüllte ich sie an, da ich mich nicht mehr beherrschen konnte. Ich war völlig am Ende mit meinen Nerven und konnte mich jetzt nicht auch noch mit ihren Streitereien herum scheren.

„Ihr seid jetzt beide endlich still. Ich will kein Wort mehr hören, habt ihr das verstanden?“ Erschrocken fuhren sie auseinander und starrten mich an. Sie waren es nicht gewöhnt, dass ich laut wurde, doch jetzt mussten sie dadurch. „Nehmt eure Taschen. Wir reisen ab.“

Ich hielt sie ihnen hin und ignorierte den vorwurfsvollen Blick aus ihren großen Augen. Dann schnappte ich mir meine eigene, die prall gefüllt war mit chirurgischen Utensilien.

Für einen Moment gönnte ich mir, die Augen zu schließen und ein letztes Mal tief einzuatmen. Wie sehr ich diese Praxis vermissen würde, konnte ich mir nicht einmal annähernd vorstellen und als wir nach draußen traten, musste ich mich sehr zusammenreißen, um mich zu beherrschen.

„Daddy, wo gehen wir hin?“, fragte Annabelle und zupfte an meinem Mantel. Ich zwang mich, zu lächeln, meinen Frust nicht an ihr auszulassen. „Nach Amerika, Anni. Wir gehen nach Amerika.“ „Nach Amerika?“ Die beiden machten ängstliche Gesichter. „Ich will nicht nach Amerika. Ich will hier bleiben“, piepste Jonathan und ich seufzte leise.

Ich war völlig überfordert und hatte keine Zeit, mich mit meinen Kindern zu beschäftigen. Sie würden warten müssen bis wir im Zug waren.

„Kommt jetzt. Wir haben es eilig.“ Ich griff nach ihren Händen und zog sie mit zur nächsten Mietdroschke, in die ich sie rein hob und mich dann mit dem Kutscher unterhielt. „Nach Kings Cross und zwar schnell bitte.“ „Ja, Sir. Ich tue mein Bestes.“ Ich setzte eine grimmige Miene auf, damit er die Dringlichkeit der Situation ernst nahm. „Sorgen Sie dafür, dass Ihr Bestes genug ist.“ „Natürlich, Sir.“ Er tippte sich an die Mütze und ich stieg ein.

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