Kapitel 21

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Das schwarze Kleid, das ich trug, schien mich daran erinnern zu wollen, was ich verloren hatte, doch ich konnte nicht mehr fühlen, nicht einmal mehr weinen. Es schien, als hätte ich keine Tränen mehr übrig. Ich fühlte mich nur noch leer und verlassen.

„Raven?" Ich spürte Rose Hand auf meiner Schulter. Langsam drehte ich mich um und starrte sie mit leerem Blick an. Ich konnte den Schmerz in ihren Augen sehen, den selben, den auch ich spürte.

„Es ist so weit. Wir müssen gehen." Ich richtete meinen Blick auf meine Hände, weil ich es nicht ertrug, sie anzuschauen. „Ich weiß." In Wahrheit hatte ich panische Angst. Die Beerdigung machte es endgültig. Ich fürchtete, dass mir erst dann wirklich bewusst werden würde, dass mein Vater nicht mehr lebte und es auch nie wieder würde.

Ich drehte mich um und setzte den zierlichen Hut mit dem schwarzen Spitzenschleier auf. Dann seufzte ich tief und merkte selber, wie seltsam meine sonst strahlend blauen Augen wirkten. Vom vielen Weinen waren sie verquollen und ich konnte die blanke Verzweiflung darin sehen.

Für einen Moment blitzte die Erinnerung an stechend grüne Augen vor meinem Inneren auf. Sie hatten den selben Ausdruck von Trauer.

Ich hatte Mr Sandrian seit beinahe einer Woche nicht mehr gesehen und ich konnte nicht umhin, als ihn zu vermissen. Er würde mich verstehen können.

An diesem Sonntag hätte Ians und Marys Hochzeit stattfinden sollen, doch sie hatten einstimmig entschieden, aufgrund der kürzlichen Ereignisse erst im Herbst zu heiraten.

In der Eingangshalle erwartete meine Mutter Rose und mich. Mit regungsloser Miene blickte sie uns entgegen. „Beeilt euch ein wenig, Mädchen", beschwerte sie sich ungehalten. Rose warf mir einen skeptischen Blick zu, den ich seufzend quittierte. Ich wusste, dass unsere Mutter nicht so gefühlskalt war wie sie sich gab, aber in diesem Moment hasste ich sie für ihr Verhalten.

Passend zu meiner Stimme prasselte draußen der Regen. „Raven, bitte geh Ian holen", bat meine Mutter mich im Befehlston. „Ja, Mutter", gab ich kühl zurück, bevor ich zum Gästezimmer stiefelte, wo Ian in den letzten Tagen übernachtet hatte.

Zaghaft klopfte ich und wartete. Nach einigen Momenten öffnete er mir. Er sah genauso schrecklich aus wie ich mich fühlte. „Es ist so weit. Wir wollen gehen", murmelte ich. Er nickte traurig und setzte sich seinen schwarzen Zylinder auf. „Komm her, Schwesterchen." Wir umarmten uns stumm und die Last, die auf meine Brust drückte, verringerte sich für einen Moment durch den Trost meines Bruders.

„Na komm", flüsterte er nach einem kurzen Augenblick und löste sich aus meiner Umklammerung. Gemeinsam kehrten wir zu den Wartenden in der Eingangshalle zurück.

Die Atmosphäre war erdrückend und wurde noch unangenehmer, da alle schwarz gekleidet waren.

„Können wir gehen?", fragte meine Mutter und ich sah, dass Rose und Henry sich hinter ihrem Rücken Blicke zuwarfen, die mir sagten, dass auch die beiden, nicht gut auf meine Mutter zu sprechen waren.

Einer nach dem anderen verließen wir das Haus und stiegen in zwei schwarze Kutschen, die man uns extra gemietet hatte, da wir einfach zu viele Leute waren für eine.

Zu meinem Verdruss landete ich mit meiner Mutter und Ian in einer, während Sophie, Henry und Rose sich die andere teilten. „Raven, sitz bitte gerade." Ich musste mich beherrschen, um sie nicht zu erwürgen.

„Mutter, denkst du nicht, dass wir alle gerade andere Probleme haben, als ob Raven gerade sitzt?", fragte Ian sie ungehalten und schaute sie entnervt an. Sie kniff die Lippen zusammen und ich wusste dass sie an Vater dachte und dass es ihr tatsächlich weh tat, dass er tot war.

Ihre steife Haltung und ihre reglose Miene konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie innerlich genauso verstört war wie der Rest von uns.

Der Unfall war eine schrecklich Tragödie gewesen. Die Kutsche war eine Böschung hinabgefallen, die Tür hatte sich geöffnet und Vater war gestürzt. Aber das war nicht einmal die Todesursache gewesen.

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt