Kapitel 27

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„Ist das dein Ernst?", fragte Mary entgeistert, als wir am nächsten Abend zusammen in einem Café saßen und ein großes Stück Kuchen verspeisten.

„Er ist nicht ernsthaft der Fassadenkletterer?" Ich zuckte zusammen. „Nicht so laut", zischte ich. „Niemand darf es wissen, hörst du? Nicht einmal Ian." Sie grinste und hielt mir einen kleinen Finger hin.

„Ich schwöre feierlich, dass ich nichts verraten werde, aber das ist das Aufregendste, das ich seit Tagen gehört habe. Lass mir die Freude."

Ich zuckte mit den Schultern. „Der Tag war einfach wundervoll, Mary. Ich wünschte, er wäre immer so wie am Sonntag." Sie verdrehte die Augen. „Nein, das tust du nicht. Du hast dich in den Mann verliebt, für den du arbeitest, nicht in den, der sich so verhält wie jeder andere auch." „Touché. Aber es war ganz angenehm, ihm nicht alles aus der Nase ziehen zu müssen. Ich habe gestern mehr über den Mann erfahren als die ganzen Wochen davor."

„Du liebst das Rätsel, Raven." Sie seufzte. „Ich will diesen Arzt wirklich einmal kennenlernen. Ich muss unbedingt wissen, wer es dir so angetan hat." „Das lässt sich denke ich einrichten. Tu so, als wärst du eine Patientin und du wirst ihn treffen."

Sie strahlte. „Raven, das ist die Idee." Ich hatte es nur als Scherz gesagt, doch Mary schien die Sache sehr ernst zu nehmen. „Ich gebe vor, krank zu sein und lerne ihn kennen." „Das kannst du nicht machen." Sie zog eine Schnute. „Sonst bist du doch immer diejenige, die für solche Sachen zu haben ist."

Meine Mundwinkel zuckten. „Du darfst dich auf keinen Fall verraten. Ich leihe dir ein unauffälliges Kleid und du denkst dir eine glaubwürdige Geschichte aus, in Ordnung?" Sie strahlte und ich sah ihr im Gesicht an, dass sie überlegte, was für eine Krankheit sie simulieren konnte, deren Symptome sich leicht fälschen ließen.

„Sehnenscheidentzündung." Sie schaute auf. „Perfekt. Die Symptome sind schwer zu diagnostizieren und wenn ich die Beschwerden glaubhaft vortäusche, wird er uns abnehmen."

Ich schüttelte den Kopf. „Erstens wird er dir glauben, nicht uns. Ich bin dagegen, aber da ich dich ohnehin nicht aufhalten kann, versuch ich die Situation zu retten und zweitens wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher, dass er die Lüge schluckt." Sie tat das mit eine Handgeste ab, doch ich sah, dass sie sich nicht mehr so sicher war.

Am nächsten Tag war ich ziemlich nervös und abgelenkt bei der Arbeit und handelte mir so des Öfteren einen Tadel von Mr Sandrian ein, der sich in keiner guten Stimmung befand.

Mary hatte mit mir vereinbart, dass sie nach den Vorlesungen kommen würde. Ich hatte es ihr nicht ausreden können und hoffte inständig, dass Mr Sandrian nichts bemerken würde.

Der Nachmittag kam näher und ich ging dem Arzt so weit es ging aus dem Weg, damit er nicht bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Gegen drei Uhr war ich verschwitzt und gestresst, da wir viel mehr Patienten als sonst hatten.

Die Zeit war wie verflogen und ich erschreckte mich, als Mary grinsend im Wartezimmer saß. Mr Heatherfield wollte aufstehen und ich war mir sicher, dass er an der Reihe war, doch meine beste Freundin drängelte sich an ihm vorbei, mit den Worten: „Es macht Ihnen doch nichts aus?"

Er sah so aus, als wolle er widersprechen, doch ich kannte ihn von einer anderen Untersuchung und bat ihn mit stillen Blicken nichts zu sagen. Er setzte sich wieder und ich hielt Mary die Tür offen.

„Kommen Sie rein." Sie konnte sich ein kleines Kichern nicht verkneifen und ich betete zu Gott, dass der Arzt es nicht gehört hatte.

Mary ging zielstrebig auf die Pritsche zu, wo sie sich hinsetzte und meiner Meinung nach viel zu selbstzufrieden aussah. Bevor Mr Sandrian den Kopf hob, machte ich noch ein Zeichen, dass sie sich bloß zusammenreißen sollte.

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt