Kapitel 9

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Am Abend war ich ziemlich müde und erschöpft und trotzdem konnte ich mir keine Ruhepause gönnen. Ich hatte ein Buch auswendig zu lernen. Dem reizenden Mr Sandrian sei Dank!

Zu meinem Glück hatte ich es geschafft, Mary einen Brief zukommen zu lassen und wir trafen uns in einem kleinen Restaurant, um etwas zu Abend zu essen.

Mary vermochte mir vielleicht zu helfen, denn sie konnte genauso gut lernen wie ich und würde mir eine Hilfe sein. Ich hatte ihr über einen Laufburschen der Pennypost eine Nachricht zukommen lassen, in der ich ihr mitgeteilt hatte, dass es mir leid tat, dass ich mich in der vergangenen Woche nicht gemeldet hatte, weil ich krank gewesen sei und das ich sie gerne zum Abendessen einladen würde.

Nun saß ich an einem kleinen Tisch, während eine junge Frau ein Glas Sodawasser mit einer Zitronenscheibe vor mir auf den Tisch stellte und eine Kerze anzündete. „Vielen Dank“, murmelte ich geistesabwesend und schaute durch ein Fenster nach draußen in die Dämmerung.

Es war viertel nach sieben und ich war erst in einer halben Stunde mit Mary verabredet. Ich genoss die vorübergehende Stille und das einfache Abschweifen der Gedanken in Richtungen, die ich nicht vorgeben musste. Denn der Tag war überaus anstrengend gewesen. Ich hatte bis um halb sechs bei Mr Sandrian gearbeitet, die Patienten hereingebeten, zugeschaut, wie er sie behandelte, mitgeschrieben und ihre Fälle in die Krankenakten eingetragen. Dabei war mir erneut die Akte mit den Namen Annabelle und Jonathan aufgefallen und die Neugierde hatte mich den ganzen Tag zerfressen.

Nachdem ich mich von dem Arzt verabschiedet hatte, war ich zu den Scotts gegangen. Es stellte sich heraus, dass sie mich tatsächlich vermisst hatten und alle beteuerten, wie froh sie seien, dass ich wieder genesen war.

Zu meiner Überraschung erzählten sie mir, dass Mr Sandrian jeden Abend persönlich vorbeigekommen war und sich um Mrs Scott und die anderen gekümmert hatte. Die Entzündung an ihrem Bein war abgeklungen und man hatte sie verbinden können. Ich war erleichtert, das zu hören und freute mich mit ihnen.

Als ich jedoch mit dem Unterricht hatte beginnen wollen, standen plötzlich drei Mütter mit ihren Kindern vor der Tür. Sie hatten gehört, was ich für die Scotts tat und bettelten, dass ich ihre Kinder auch unterrichten möge. Und so bekam ich Neuzuwachs und ich hatte das Gefühl, dass ich mir auf Dauer einen anderen Ort überlegen müsste, an dem ich die Kinder unterrichten konnte.

Als ich die Stunde schließlich beendet hatte, war ich von allen gedrängt worden, noch ein wenig zu bleiben und die Mütter hatten mich in die Mangel genommen.
Als ich es schließlich geschafft hatte, zu entkommen, war es bereits sieben Uhr gewesen und ich hatte ihnen erklärt, dass ich noch verabredet war.

Ich konnte es kaum erwarten, Mary alles zu erzählen und mit ihr unbefangene Gespräche zu führen, doch dann kam alles anders.

Als sie schließlich eintraf, sah ich sofort, dass etwas sie unglaublich aufgewühlt hatte. Ihre Wangen waren gerötet und ihr Blick war weit weg. Ich kniff misstrauisch die Augen zusammen, als sie sich mir gegenüber setzte und mich nicht einmal richtig ansah. „Mary? Was ist los?“, fragte ich sie neugierig. Ihr Blick traf meinen und sie hielt mir ihre Hand hin.

Langsam senkte sich mein Blick auf ihre Finger und fiel auf etwas Glitzerndes. „Wer?“, war das einzige, das ich herausbrachte. Bedeutungsvoll schaute sie mich an und als ich begriff, schlug ich die Hände vor den Mund. „Ian?“, quietschte ich aufgeregt und sie nickte.

„Er hat mir heute Mittag den Antrag gemacht, Raven. Nachdem wir beide mit den Vorlesungen fertig waren, hat er mich zum Mittagessen eingeladen und mir seine Liebe gestanden!“ Ich sprang auf und umarmte sie stürmisch. „Ich glaub das einfach nicht. Ian und du! Das ist ja hervorragend!“ „Wusstest du davon?“, fragte sie mich. „Dass er dir einen Antrag machen wollte? Nein, davon hatte ich keine Ahnung. Aber ich wusste, dass er in dich verliebt war“, grinste ich und sie starrte mich ungläubig an. „Und das hast du mir nicht gesagt?“ Ich zuckte mit den Achseln. „Ich habe es ihm versprochen.“

Sie kniff gespielt sauer die Augen zusammen. „Du brauchst gar nicht erst auf Vergebung zu hoffen“, sagte sie und musste grinsen. Ich lachte leise. „Oh Raven, ich bin wirklich in ihn verliebt. Bewahre mich bitte davor, ihm restlos zu verfallen“, bat sie leise. „Auf keinen Fall. Glaub mir, mein Bruder ist die beste Wahl, die du treffen konntest.“ Ich griff nach ihrer Hand und lächelte beruhigend.

„Wann ist die Hochzeit?“ „In einem Monat.“ Sie seufzte. „Oh Raven, ich bin so nervös.“ Ich grinste. „Das ist vollkommen normal. Mary, du heiratest meinen Bruder. Dann sind wir Schwägerinnen. Ist dir das klar?“ Sie lächelte. „Das wird wunderbar. Jetzt müssen nur noch deine Eltern ihren Segen geben.“ Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Keine Sorge, den hast du. Sie wissen, dass wir befreundet sind und dass du eine ehrbare und gute Partie bist.“

Den Rest des Abends verbrachten wir damit, uns über die bevorstehende Hochzeit zu unterhalten. Ich vergaß mein Problem mit dem Pflanzenbuch nicht, doch ich brachte es nicht über mich, sie in ihrer Euphorie zu stören. Ich musste einfach darauf vertrauen, dass Mr Sandrian Verständnis zeigen würde.

Es war schon spät, als ich schließlich zuhause ankam. Rose war völlig aus dem Häuschen, denn Ian war zu Besuch und hatte ihr offenbar schon alles erzählt. „Herzlichen Glückwunsch, großer Bruder“, gratulierte ich ihm, während ich ihn fest umarmte. Vor lauter Überschwang hob er mich vom Boden und wirbelte mich durch die Luft. „Ian“, ermahnte ihn meine Schwester wenig überzeugend. In diesem Moment störte es niemanden, dass er für einen Moment kein perfektes Benehmen an den Tag legte. Er lachte. „Kannst du es glauben, dass sie ja gesagt hat?“, fragte er mich und ich nickte grinsend. „Du hättest sehen sollen, wie völlig durch den Wind sie war. Man hat ihr auf zwanzig Metern in Entfernung angesehen, wie glücklich sie war.“ Er lächelte zufrieden und ich freute mich für ihn mit.

Zu meinem Leidwesen war es weit nach Mitternacht, als ich schließlich ins Bett ging. Allerdings gönnte ich mir keine Ruhepause. Ich setzte mich mit dem Rücken gegen das Kopfteil meines Bettes und begann über dem Buch zu brüten, das Mr Sandrian mir gegeben hatte. Obwohl mein Kopf sich schwer und träge anfühlte, war ich entschlossen, zu lernen.

Irgendwann jedoch las ich einen Satz mehrfach und verstand ihn noch immer nicht.  In den Wurzeln des Baldrians ist das Geheimnis eines gesunden, erquickenden Schlafes enthalten. Baldrian hilft bei der Bewältigung von zu viel Stress.
Ich zwang mich, meine ganze Konzentration auf die Wörter zu lenken und sie zu einem logischen Satz zusammenzufügen. Gerade hatte ich ihn endlich begriffen, als es halb drei schlug. Ich stöhnte und zwang mich weiterzumachen, während meine Augen immer schwerer wurden. Irgendwann konnte ich sie einfach nicht mehr offen halten und schlief über dem Lesen ein.      

Nach nur wenigen Stunden Schlaf musste ich wieder aufstehen und war ungemein schlecht gelaunt. Nur Ians Anwesenheit hob meine Laune, weil ich es  genoss, ihn zu sehen und mich so für ihn und Mary freute. Im Gegensatz zu mir sah er annähernd erholt aus, obgleich auch er nicht viel geschlafen haben konnte. Seine Wangen waren gerötet, genau wie Marys und der Blick verträumt in die Ferne gerichtet.

Ich seufzte leise, während ich mein Frühstück zu mir nahm. „Hast du Mutter und Vater schon geschrieben?“ „Nein, das sollte ich wirklich tun. Danke, Raven.“ Ich schaute auf und über den Tellerrand meines Porridges hinweg. Er war wirklich völlig in seiner eigenen Welt gefangen.

Da er nicht so aussah, als ob er in der nächsten Zeit zu irgendetwas zu gebrauchen sei, stand ich auf, eilte die Treppen nach oben und holte ihm Schreibzeug. Auf dem Weg nach unten begegnete ich Rose, die Sophie auf dem Arm hatte. „Raven, Raven!“, rief die Kleine aufgeregt. „Sophie, bist du schon auf?“ „Ja, ich bin doch wach, Raven“, kicherte sie und kletterte auf meinen Arm, die goldenen Löckchen hinter ihr her flatternd. Rose schmunzelte und nahm mir das Schreibzeug aus der Hand. „Wem wolltest du denn schreiben?“, fragte sie mich neugierig. „Es ist nicht für mich. Es ist für Ian. Ich habe ihm gesagt, dass er Mutter und Vater schreiben soll.“

Sie nickte. „Lass mich raten, er bringt keinen klaren Gedanken zustande.“ „Ich fürchte, das ist so. Du solltest alles daran setzen, dass er halbwegs bei Verstand ist, wenn er zur Universität aufbricht.“ Sie seufzte. „Auf jeden Fall sollte er dort nicht völlig verwirrt auftauchen.“

Zehn Minuten später war es für mich Zeit, zu gehen und ich eilte noch einmal nach oben, um das Buch zu holen, das ich nicht fertig gelesen hatte. Auf dem Weg zur Praxis schlief ich fast ein und als ich schließlich ankam, musste ich mich zwingen, meinen Verstand klar zu halten.

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt