Kapitel 22

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Ich betrat die überfüllte Arztpraxis und atmete tief ein. Der vertraute Geruch empfing mich wie ein alter Freund, den ich vermisst hatte.

Einige Leute nickten mit freundlich zu, da ich sie schon einmal behandelt hatte und ich setzte mich zu ihnen.

Etwa eine viertel Stunde später öffnete sich die Tür und ein Patient mit übel zugerichtetem Gesicht trat heraus. Ich nutzte meine Chance und schlüpfte ins Behandlungszimmer.

Der Arzt wandte mir den Rücken zu, da er in einem Buch las. „Was kann ich für Sie tun?", fragte er, während er sich umdrehte. Als er mich erblickte, erschien ein Lächeln auf seinen Lippen, während ich vor Überraschung zurücktaumelte.

Leander Sandrian hatte sich einer so vollkommene Wandlung unterzogen, dass ich meinen Schock kaum überwinden konnte. Seine pechschwarzen Haare waren ein Stück gewachsen und noch zerzauster als sonst und statt dem üblichen schwarzen Hemd trug er ein weißes.

„Haben wir die Rollen getauscht?", fragte ich mit ironischem Unterton.


„Miss Silver, wie geht es Ihnen?", fragte er, ohne auf meinen Kommentar einzugehen. „Wie es jemandem geht, der gerade einen geliebten Menschen verloren hat. Wenn Sie von diesem Aspekt absehen können, dann geht es mir gut." Ich sah, dass er nicht wusste, ob er lächeln oder ernst gucken sollte.

„Naja, Ihre scharfe Zunge haben Sie jedenfalls nicht verloren", bemerkte er also mit ruhiger Stimme. Ich errötete und fragte mich prompt, ob er mich getadelt oder einfach nur verspottet hatte. Wenn er nicht wollte, dass ich wusste, was er dachte, dann würde ich das auch nicht herausfinden können, doch etwas sagte mir, dass Mr Sandrian mich nicht kritisiert hatte.

„Tja, mit der müssen Sie wohl noch eine Weile vorlieb nehmen", lächelte ich und sah seine Mundwinkel zucken. „Sie bleiben also hier?", fragte er. „Was sollte ich sonst tun?" Er nickte widerspruchslos, da er zu verstehen schien, was in mir vorging.

„Dann an die Arbeit, Miss Silver. Es gibt viel zu tun." Ich schloss für einen Moment die Augen und lächelte zufrieden. Es war so wunderbar normal hier zu sein und die Stimmung zwischen uns war ausgeglichen.

Der Nachmittag verging wie im Flug und ich genoss jede Sekunde in seiner Gegenwart. Immer wieder haftete mein Blick auf ihm und mein Bauch kribbelte nervös. Das Gefühl, das seine Anwesenheit in mir hervorrief, war so unbeschreiblich, dass ich zeitweise kaum atmen konnte.

Wir arbeiteten Hand in Hand und ich hatte das Gefühl, dass wir uns in einem seltsamen Gleichgewicht befanden. Ich seufzte und nahm mir vor, mich mehr auf meine Arbeit zu konzentrieren als auf den Arzt, was mir jedoch sehr schwer fiel, da ich ihm kaum entkommen konnte. Es war, wie eine Droge zu konsumieren, die mich völlig berauschte und mich abhängig machte.

Ich öffnete die Tür und blickte auf die Akte, die ich in der Hand hielt. „Mrs Dawson. Komme Sie bitte herein." Ich lächelte und strich mir eine blonde Haarsträhne hinters Ohr.

Die jung, blass und erschöpft aussehende Frau erhob sich schwerfällig von ihrem Stuhl und ich eilte zu ihr hin, um sie zu stützen.

„Vielen Dank, Ma'am." „Bitte, nur Miss Silver", erwiderte ich freundlich. Ich drehte mich um und fand mich einem lächelnden Mr Sandrian gegenüber. Er beugte sich in meine Richtung und ich konnte kaum dem Drang widerstehen, nach hinten auszuweichen.

Er raunte mir ins Ohr: „Was habe ich Ihnen gesagt, Miss Silver? Respekt bekommt man, wenn man andere respektvoll behandelt." Ich stand versteinert neben dem Arzt, der sich mittlerweile wieder aufgerichtet hatte und nun mit hinter dem Rücken verschränkten Armen neben mir stand und mit konzentriertem Blick die Patientin musterte.

„Wie können wir Ihnen helfen, Mrs Dawson?", fragte ich, nachdem ich mich halbwegs erholt hatte. Sie öffnete den Mund, um zu antworten, doch Mr Sandrian fiel ihr ins Wort.

„Lassen Sie mich raten. Sie sind schwanger und können nicht mehr aufhören, sich zu übergeben?", fragte er mit mildem Interesse. Erstaunt starrten ich und die Frau ihn an.

„Woher wussten Sie das?", fragte ich ihn. Seine Augenbrauen schossen in die Höhe und er zog sich einen Stuhl heran. „Ich hatte mehrere Anhaltspunkte." Mrs Dawson und ich warfen uns vieldeutige Blicke zu und warteten gespannt auf die Ausführung seiner These. „Nun ja, zum einen sind Sie im passenden Alter für eine Schwangerschaft. Natürlich hätte es sich auch um eine Infektion handeln können, aber erstens wären Sie dann nicht hier her gekommen und zweitens hätte eine Infektion mit Fieber einher gehen müssen. Da Sie sehr blass sind und keine geröteten Wangen haben, konnte ich Letzteres bereits ausschließen. Etwas anderes ist es auch nicht, da ich nichts an der Art Ihrer Bewegungen feststellen konnte, außer, dass Sie geschwächt sind und dann wären da noch...", er brach ab und schaute verlegen drein. „Was?", fragten Mrs Dawson und ich aus einem Munde. „Die Flecken von Erbrochenem auf Ihrer Bluse."

Augenblicklich lief die Frau knallrot an und ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Mr Sandrian räusperte sich. „Sie leiden an Hyperemesis gravidarum. Ich werde Ihnen etwas aufschreiben. Gehen Sie damit zur nächsten Apotheke in der Stadt. Dort zeigen Sie diese Notiz vor und Sie werden bekommen, was Sie brauchen. Ich empfehle Ihnen, den Aufguss drei Mal täglich zu sich zu nehmen und viel zu trinken, damit Sie nicht dehydrieren."

Sie nickte mit leuchtenden Augen und knickste tief. „Vielen Dank, Sir. Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen genug danken kann." „Unsinn. Ich habe kaum etwas getan und jetzt gehen Sie und ruhen sich aus."

Mit einem milden Lächeln geleitete er sie zur Tür. „Beeindruckend", gestand ich ihm ein und beobachtete, wie er einen Stift in der Hand drehte und wendete. „Ich hatte Glück. Es hätte auch etwas vollkommen anderes sein können." Er sagte es beiläufig, während er ein Buch aufschlug und nach einer bestimmten Seite suchte, doch ich dachte für mich selbst, dass es kein Zufall gewesen war und bewunderte seinen Scharfsinn, den ich in dieser Form noch bei keinem anderen Mann seines Alters erlebt hatte.


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