Kapitel 2

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Am nächsten Morgen wurde ich schon früh geweckt. Das hatte ich wahrlich nicht vermisst, doch als ich mich schließlich aus meinen warmen Kissen gequält hatte, kehrten meine Lebensgeister langsam zurück und mein Kopf wandte sich dem bevorstehenden Tag zu. Vorfreude und ein bisschen Nervosität schlichen sich bei mir ein und ich konnte nicht verhindern, dass ein breites Lächeln auf meinem Gesicht erschien.

Ich beeilte mich, mich ordentlich anzuziehen, schlicht, aber passend. Dann machte ich mich auf den Weg nach unten zum Frühstück. Rose und Henry waren ebenfalls schon zugegen und saßen bereits um den Tisch.

„Guten Morgen“, begrüßte ich sie und erhielt zur Antwort ein Kopfnicken von Henry und ein Lächeln von Rose. Es wunderte mich kaum, dass Henry sehr wortkarg war. Er war kein Frühaufsteher und morgens immer ein bisschen grummelig, was meine Laune heute Morgen aber nicht trüben konnte.

Ich setzte mich auf einen Stuhl und begann, Brot und Bacon in mich hinein zu schaufeln. Das mochte wenig damenhaft sein, aber zum Glück befand ich mich in unkonventioneller Gesellschaft, die darüber gut hinwegsehen konnte und auch schon daran gewöhnt waren. Ich verkniff es mir, darüber nachzudenken, was das über mich aussagte und trank stattdessen lieber meine heiße Schokolade.

Rose warf mir einen kurzen, belustigten Blick zu und ich seufzte. „Sag jetzt bloß nichts.“ Sie zuckte mit den Schultern und verhöhnte mich mit ihrem demonstrativen Schweigen. Ich funkelte sie mürrisch an, doch sie ignorierte mich gekonnt und widmete sich ihrem Porridge.

Nach dem Frühstück stand ich auf, ließ mich entschuldigen und machte mich schnell fertig für den Tag. Als ich nach draußen in die kühle Morgenluft trat, erwartete mich schon unsere Kutsche.

Der Kutscher, Mr Podmore, verbeugte sich leicht vor mir und hielt mir dann die Tür auf. „Vielen Dank.“ Er nickte und ich erwartete keine Antwort, da er stimmlos war und nicht sprechen konnte. Der arme Kerl hatte lange Zeit keine Anstellung gefunden, bis Henry ihn eingestellt hatte, weil er nicht einsah, dass ein Stummer weniger taugte als ein Gesunder.

Ich ließ mich in die Kissen sinken, ließ das Rattern und Ruckeln der Kutsche über mich ergehen und lehnte den Kopf an die Polster des Innenraums. Gedanken schwirrten haltlos durch meinen Kopf und beschäftigten sich unaufhaltsam mit meinem Studium. Was ich lernen würde, ob es weiterhin interessant sein würde, wie es Mary während der Ferien ergangen war und als die Kutsche plötzlich wieder hielt und mich auf dem Gelände der University of London ausspuckte, war ich ein wenig verwirrt.

Mr Podmore reichte mir die Hand, als ich ausstieg und tippte sich zum Abschied an den Hut. Ich lächelte ihm freundlich zu und machte mich dann auf den Weg zu dem Gebäude, in dem sich das Wissen sammelte und in dem ich lernen durfte.

Die Sonne schien sanft auf mich herab, so dass ich nicht frieren musste, als ich den Weg zum Eingang entlang schlenderte. Hinter mir hörte ich leise Schritte und einen Moment später schob sich ein Arm um meinen. Ich drehte erstaunt meinen Kopf und grinste plötzlich über beide Ohren. „Mary“, rief ich ein wenig zu laut. Wir umarmten uns fest und lächelten dann verschwörerisch. „Wie waren deine letzten Wochen?“, fragte ich sie leise. Sie seufzte theatralisch. „Schrecklich langweilig ohne dich. Ich habe nicht eine Minute Zeit gefunden, um meine Nase in ein Buch zu stecken. Weißt du eigentlich, was das für eine Schande ist?“, fragte sie aufgebracht. „Allerdings. Mir ging es ähnlich. Ich habe mir gestern als allererstes vier Bücher geschnappt, um mein Defizit wieder auszugleichen“, seufzte ich und dann verdrehten wir plötzlich über uns die Augen.

Andere freuten sich über eine Lernpause, doch Mary und ich waren ein wenig anders als die anderen. Wir hatten beide Bestnoten und waren mit Abstand die besten Studentinnen in unseren Kursen, was uns auch zueinander geführt hatte.

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt