Kapitel 44

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Sicht: Isabelle Marino

Ich seufzte und schaute auf Leandro hinab. Er schlief, doch ich machte mir Sorgen um ihn. Die Wunde war größer, als er es wahrscheinlich vermutete. Der leichtsinnige Dummkopf hatte sich noch eine weitere Stunde zur Arbeit gequält, als hätte ich nicht schon genug Patienten. Was hatte ich ihm vorher gesagt?

Aber nein, Monsieur „Mir passiert schon nichts“ musste unbedingt seinen Willen durchsetzen.

Ich konnte nur hoffen, dass er sich schnell wieder erholen würde. Der Gedanke, er könne krank werden oder gar sterben, ließ mich frösteln. Schnell verdrängte ich diese düstere Vorstellung und stand auf. Er würde eine ganze Weile nicht bei Bewusstsein sein. Zeit, die ich sinnvoll nutzen konnte.

Zum Beispiel musste ich Lieutenant Murphy aufsuchen. Vielleicht konnte er Leandro vom Dienst freistellen. Außerdem durfte ich meine Pflichten als Schiffsärztin nicht vernachlässigen.

Ich war froh, dass Penelope und John auf die Kinder aufpassten. Zu hektisch war gerade alles und ich konnte mich nicht noch um die Zwillinge kümmern.

Für einen Moment gönnte ich mir eine Verschnaufpause, in der ich Leandro durch die Haare strich und sein schlafendes Abbild betrachtete. Dann eiste ich mich von seinem Anblick los und verließ die Kajüte.

Gedränge herrschte dort und ich bemühte mich, Abstand zu den Meisten zu wahren. Wo konnte ich den Lieutenant finden? Ich wollte es möglichst vermeiden, die Brücke zu betreten, da ich im Gefühl hatte, dass der Kapitän nicht erfreut sein würde, wenn ich ihn wieder stören würde.

Wie von selbst trugen mich meine Füße also zu einem Ort, wo ich am wahrscheinlichsten jemanden finden würde, der mir sagen konnte, wo die Lieutenants sich normalerweise aufhielten. Schon von Weitem tönte mir der Krach entgegen und ich wappnete mich für die Kommentare der Männer, doch so weit kam es gar nicht erst.

„Mrs Marino.“ Ich wandte den Kopf und erblickte zu meinem Erstaunen genau den Mann, den ich suchte. Hastig knickste ich tief. „Guten Tag, Sir.“ Er lächelte und sein sandblondes, lockiges Haar war zu einem Zopf im Nacken zusammengebunden. „Wie erfreulich, Sie wieder zu treffen. Ich hatte heute bereits das Vergnügen mit Ihrem Mann.“

Ich nickte. „Genau deshalb wollte ich mit Ihnen sprechen, Sir. Lee, ähm ich meine Leandro ist schwer krank. Vielleicht haben Sie es mitbekommen, aber er wurde angegriffen und hat schwere Verletzungen zurückbehalten.“ Er hob die Augenbrauen. „Ja, in der Tat. Ich war der Dienstaufsicht habende Offizier. Ich muss Ihnen sagen, dass ich erschrocken war, Sie mit diesem Mann verheiratet zu wissen.“

Ich zuckte zusammen, angesichts der drastischen Worte. „Sir, ich kann Ihnen versichern, dass mein Mann niemals von sich aus jemanden angegriffen hätte. Er ist der ehrenhafteste Mensch, den ich kenne." „Ist das so?“ Sein schlechtes Bild von Leandro nagte an mir. „Er hat jahrelang die Kranken der Armen gepflegt, ohne etwas dafür zu verlangen. Sein Gewissen und seine Treue beweisen sich schon darin, dass er seine bequeme Arbeit als Arzt für die eines Arbeiters getauscht hat, um ihnen zu helfen.“

Die Gesichtszüge  des Lieutenants erweichten und er nickte. „Und trotzdem hat er sich auf diesem Schiff mit einem anderen Mann geprügelt. Sie können froh sein, dass ich ihn nicht auch habe einsperren lassen.“

Mir lief es kalt den Rücken hinunter. „Betrachten Sie doch einmal die Lage, Sir. Wer von den beiden ist jetzt schwer verletzt? Befragen Sie doch die Arbeiter, wer den Streit angefangen hat.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Nun gut. Ich glaube Ihnen. Aber was wollten Sie mit mir besprechen?“

Ich zwang mich, ihn nicht düster anzufunkeln, um meine Chancen auf Hilfe nicht zu dezimieren. „Ich wollte Sie bitten, ihn für den Rest der Fahrt vom Dienst freizustellen.“ Lieutenant Murphy lachte freudlos. „Mit Verlaub, Mrs Marino. Aber Ihr Mann hat seinen Dienst zu leisten.“ „Schauen Sie sich bitte erst seinen Zustand an, Sir. Ich bitte Sie.“ Er haderte einen Moment. „Na gut. Führen Sie mich zu ihm.“ Erleichterung ließ mich strahlen. „Ich danke Ihnen vielmals.“

Er schnaubte. „Er kann sich glücklich schätzen, eine Frau wie Sie an seiner Seite zu haben.“ Ich lächelte. „Das klingt nach Verbitterung, Lieutenant Murphy.“ Er zuckte mit den Schultern. „Meine Frau ist, mit Verlaub, ein geldgieriges, dreistes Biest.“ Ich sog scharf die Luft ein, musste dann aber lachen.

Er stimmte mit ein und ich verzieh ihm nach und nach seine schlechten Bemerkungen über Leandro.

Wir erreichten die Kajüte und ich ließ ihn eintreten. Lee war noch immer bewusstlos. „Meines Erachtens schläft er einfach“, brummte der Lieutenant. Ich biss die Zähne aufeinander. „Im Gegenteil. Er ist besinnungslos, hat das Bewusstsein verloren.“ Ich fühlte seine Stirn. Sie war glühend heiß.

„Hier, schauen Sie selbst. Das Fieber ist hoch.“ Er beugte sich herab und legte die Hand selbst auf Lees heiße Haut. „Sie haben recht, aber ein bisschen Fieber hat noch niemanden umgebracht.“ Ich verkniff es mir zu erwähnen, dass täglich Leute an Fieber starben und wickelte stattdessen den Verband ab. Und endlich keuchte auch der Offizier. Die Wunde war mindestens handtellergroß und langsam bildeten sich Blasen. Im Schlaf stöhnte Leandro und ich trug erneut die Salbe auf.

„Sind Sie nun überzeugt, dass er nicht arbeiten kann?“ Murphy neigte ergeben den Kopf. „Betrachten Sie ihn hiermit als freigestellt. Ich werde ihn beim Kapitän als arbeitsunfähig bezeugen.“ Erleichtert seufzte ich. „Ich kann Ihnen gar nicht genug danken, Lieutenant Murphy.“ Er lächelte aufmunternd und empfahl sich dann.

Ich drückte meine Lippen auf die glühende Stirn meines Mannes und grinste, als er im Schlaf lächelte. „Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich liebe, du leichtsinniger Trottel.“ Er sah selbst mit Fieber und noch feuchten Haaren unglaublich aus. Es fiel mir schwer, seine Seite zu verlassen, doch ich musste zurück in die Praxis.

Der Rest des Tages verlief ziemlich ereignislos. Jede Stunde schaute ich nach Lee, doch sein Zustand blieb unverändert. Ich hoffte, dass die Verletzung innerhalb der nächsten Wochen wieder ausheilen würde, zumindest soweit, dass er wieder funktionstüchtig war.

Gegen Abend gabelte ich die Zwillinge auf, die mich ängstlich befragten, was mit ihrem Vater geschehen sei, als sie ihn erblickten. Ich kniete mich vor sie und begann ihnen zu erklären, was ihm fehlte. Natürlich ließ ich dabei die Prügelei aus und versprach ihnen, dass ihr Vater wieder gesund werden würde.

Danach hatte keiner von uns mehr wirklich Hunger, doch ich nötigte die beiden zum Essen. Ich wollte mir später nicht von Lee vorhalten lassen müssen, ich hätte seine Kinder vernachlässigt. Ich selbst nahm nichts zu mir. Mir wurde schob beim Gedanken an etwas Nahrhaftes schlecht und ich starrte trübsinnig geradeaus.

Die Sorgen quälten mich und ich hatte Angst, was passieren könnte, sollte Leandro nicht genesen. Die Vorstellung, jetzt schon Witwe zu werden, ließ alles in mir verkrampfen. Das würde ich nicht verkraften.

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt