Kapitel 35

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Sicht: Raven Silver

„Tee, meine Liebe?“ Laura hielt mir eine Kanne mit dem heißen Gebräu hin, das ich dankbar annahm. „Vielen Dank.“ Sie füllte meine Tasse und nippte dann an ihrer eigenen.

Ich war nervös. Leander und ich hatten es in den letzten Tagen immer wieder geschafft, uns heimlich zu treffen. Alles war geplant und vorbereitet und morgen würden wir aufbrechen, aufbrechen in ein neues Leben.

Bis jetzt hatte noch niemand Verdacht geschöpft. Ich war nervös, konnte kaum still sitzen und nutzte jede Gelegenheit, dem Haus zu entkommen. Für heute Nachmittag hatte ich mich mit Rose und Henry zum Tee verabredet, doch zuvor musste ich noch eine Sache erledigen. Ich wollte das Grab meines Vaters besuchen. Ein letztes Mal.

„Raven. Ich muss sagen, ich genieße es, endlich Gesellschaft zu haben“, strahlte Kurts Schwester und ich zwang mich, ihr Lächeln zu erwidern. „Das freut mich zu hören. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht immer leicht gewesen ist, allein mit Kurt hier zu leben.“ Sie seufzte. „Wie recht du hast. Ich beneide dich. Du hattest deine Schwester immer um dich, nicht wahr?“ „Ja, sie und mein Bruder Ian sind für mich wie beste Freunde und ich kann mir ein Leben ohne die beiden nicht vorstellen.“

Das konnte ich wirklich nicht und es machte mich unglaublich traurig. Ich hatte einen Abschiedsbrief an Ian und Mary und an Rose geschrieben. Mehr konnte ich nicht tun, um mich zu verabschieden.

Der Gedanke schnürte mir die Luft ab. „Laura, es tut mir leid, aber ich fühle mich nicht wohl. Ich glaube, ich brauche frische Luft“, murmelte ich, stand auf und hastete fluchtartig nach draußen. Laura starrte mir irritiert hinterher. Ich konnte jedoch keine Rücksicht darauf nehmen. Mir war plötzlich schlecht und ich hatte das Gefühl zu ersticken, wenn ich der Enge des Hauses nicht bald entkam.

Ich verzichtete sogar darauf, mir einen Mantel mitzunehmen, was ich sicher später bereuen würde, doch für den Moment war ich für die kühle Luft dankbar.

Ich nahm mir die Zeit, mich zu beruhigen und schlenderte die Straße hinab. Das war vermutlich das letzte Mal, dass ich unbescholten durch die Straßen Londons laufen würde. Die Bewegung tat mir gut und ich wanderte so lange, bis meine Füße schmerzten und die Sonne so hoch am Himmel stand, dass sie beinahe wärmte.

Erst als ich das Gefühl hatte, keinen Schritt mehr gehen zu können, winkte ich eine Droschke heran. Der Kutscher stieg von seinem Kutschbock und verbeugte sich tief. „Wo soll es hingehen, Ma´am?“ Ich nannte ihm die Adresse und stieg ein.

Während der Fahrt zogen die endlosen Reihen der Häuser vorbei, die in den letzten Jahren zu meiner Heimat geworden waren. Würde ich unser wunderschönes Haus am Meer jemals wieder sehen? Vermutlich nicht. Es kam mir so seltsam vor, dass ich all dies morgen schon hinter mir lassen würde. Morgen Abend bei Sonnenuntergang würde das Schiff auslaufen und alles was ich mitnehmen konnte, waren ein kleiner Koffer und die Erinnerungen an dieses Land.

Ich würde fliehen mit einem Mann, den ich seit einem halben Jahr kannte, mit ihm ein neues Leben beginnen, seine Kinder mit großziehen und vielleicht sogar eigene bekommen.

Dieser Gedanke kam mir zum ersten Mal und ich wusste nicht, ob ich ihn erschreckend finden sollte oder nicht. Ich hatte bei Kurt tunlichst darauf geachtet, dass ich nicht schwanger wurde, was mir dank meiner medizinischen Kenntnisse nicht schwer gefallen war, doch bei Leander… Würde ich es überhaupt aushalten können, ihm körperlich so nahe zu sein, ohne ihn später genau so zu verachten, wie ich Kurt verachtete?

Ich hatte mehr Angst davor, als mir lieb gewesen wäre und ich hoffte inständig, er würde es verstehen.

Zum Glück unterbrach das Verstummen des stetigen Ruckelns der Droschke meine trübseligen Gedanken und ich ließ mir beim Aussteigen helfen. Friedhöfe hatte ich schon immer beängstigend gefunden. Es herrschte eine seltsame Aura, die ich nicht in Worte fassen konnte.

Silver LoveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt